Der Schlüsselstreit
23. Juli 2015Ein Schlüssel aus der Stadt Königstein hat eine erstaunliche und vielfältige Karriere hingelegt. 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland, haben sich Experten in Königstein im Taunus getroffen, um festzulegen, wie man die Kosten von wichtigen überregionalen Forschungseinrichtungen gerecht verteilen sollte. Herausgekommen ist der Königsteiner Verteilungsschlüssel.
Und den fand die große Mehrheit der politisch Verantwortlichen offenbar so gerecht, dass sie ihn in den Jahren und Jahrzehnten danach auf immer neue Bereiche angewendet haben, bei denen es um die Beteiligung der einzelnen Bundesländer an gesamtdeutschen Finanzierungen ging. Daneben legt der Schlüssel heute auch fest, wieviele Asylbewerber jedes Land aufnehmen muss.
Faktoren Wohlstand und Bevölkerung
Bei der Aufteilung geht es um zwei Faktoren, um das Steueraufkommen und die Bevölkerungszahl eines Landes, allerdings nicht zu gleichen Teilen. Das Steueraufkommen wird mit zwei Dritteln gewichtet, die Bevölkerung mit einem Drittel.
Relativer Wohlstand und relative Bevölkerungszahl der Länder ändern sich natürlich im Laufe der Zeit. Bayern zum Beispiel ist im Vergleich zu anderen Bundesländern wohlhabender geworden. Und manche Länder verlieren Menschen, etwa Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, während in anderen die Bevölkerung wächst. Um diese Veränderungen zu berücksichtigen, legt die sogenannte Gemeinsame Wissenschaftskonferenz den Schlüssel jedes Jahr neu fest.
Im Moment weist der Königsteiner Schlüssel Nordrhein-Westfalen mit 21 Prozent mit Abstand die Spitzenposition bei der Verteilung von Finanzlasten und von Asylbewerbern zu. Die Wirtschaftskraft des Landes liegt im Mittelfeld, es hat aber von allen Bundesländern bei weitem die meisten Einwohner. Es folgen Bayern mit 15 und Baden-Württemberg mit 13 Prozent, danach wird es einstellig. Ganz hinten liegen das kleine Saarland und der Stadtstaat Bremen mit jeweils einem Prozent.
Die Fläche zählt nicht
Was beim Königsteiner Schüssel gar nicht zählt, ist die Fläche eines Bundeslandes. Und genau da liegt das Problem, wenn es um die Verteilung von Asylbewern geht. Kritiker aus den Stadtstaaten sagen nämlich, die Fläche müsse berücksichtigt werden.
Bestes Beispiel ist Hamburg. Die Hansestadt hat im Vergleich zu seiner kleinen Fläche ein sehr hohes Steueraufkommen und viele Einwohner. Hamburg liegt deshalb im Verteilungsschlüssel mit drei Prozent auf derselben Höhe wie die Flächenländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Mit anderen Worten, Hamburg muss auf engstem Raum genauso viele Flüchtlinge aufnehmen wie jedes der vier eher dünn besiedelten Flächenländer.
Die Wohnungsnot in Hamburg wäre schon ohne Asylbewerber groß. Mit ihnen weiß der Hamburgische Senat nicht mehr, wo er die vielen Menschen unterbringen soll. Selbst Zeltlager, Wohncontainer und Schiffe bringen immer nur vorübergehend Entlastung. In Sachsen-Anhalt dagegen stehen viele Häuser leer, werden sogar abgerissen, weil Menschen wegen mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven wegziehen.
Deshalb würde Hamburgs Sozialsenator Detlev Scheele von der SPD den Königsteiner Schlüssel gern ändern. "Wir finden in Hamburg keine Wohnungen, kaufen einen Container nach dem anderen, und woanders wird Wohnraum vernichtet. Das ist verrückt", findet er und schlägt vor, die Menschen dorthin zu schicken, wo es Wohnraum gibt. Hamburg würde sich sogar an den Kosten beteiligen.
Und die Aufnahmeländer würden nach Meinung von Scheele auch anderweitig profitieren. Einrichtungen wie Schulen oder Arztpraxen könnten überleben, wenn Flüchtlingsfamilien halbverlassene Dörfer und Städte wiederbelebten.
Widerstand gegen Veränderungen quer durch die Parteien
Auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen denkt so. Doch so vernünftig die Idee klingt, sie ist bei denen unbeliebt, die dann mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten. Und dabei geht es keineswegs um parteipolitische Unterschiede.
So ist in Hamburg auch CDU-Oppositionschef André Trepoll für eine Neuaufteilung, nicht aber seine Parteifreunde in den östlichen Flächenländern, obwohl, so Trepoll, "ganz Thüringen so viele Flüchtlinge aufgenommen hat wie Köln". Und in Hamburgs nördlichem Nachbarland Schleswig-Holstein ist SPD-Innenminister Stefan Studt im Gegensatz zum ebenfalls sozialdemokratischen Hamburger Senat der Meinung: "Die Verteilung der Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel hat sich bewährt." Sein CDU-Innenministerkollege Lorenz Caffier aus Mecklenburg-Vorpommern pflichtet ihm bei: "Der Schlüssel ist eine verlässliche und vor allem berechenbare Größe."
Übrigens will auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière nichts am Schlüssel ändern, aber nicht aus sachlichen Gründen, sondern weil er befürchtet, das werde "nur zu Unfrieden zwischen den Ländern" führen. Es ist ähnlich wie bei der Aufteilung von Flüchtlingen in der EU: Diejenigen, die sich von einer Neuregelung Entlastung versprechen, sind dafür, diejenigen, die mehr aufnehmen müssten, sind dagegen.