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Politik

Religionsunterricht als Staatsaffäre

Jannis Papadimitriou
7. Oktober 2016

Hat Linkspremier Tsipras ein Problem mit der Kirche? Oder hat die Kirche ein Problem mit Tsipras? Die Reform des Religionsunterrichts sorgt in Hellas für heftigen Streit mit dem orthodoxen Klerus.

Die Führer der christlich-orthodoxen Kirchen
Bild: picture-alliance/AP Photo/S. Hawkey

Nach dem Linksruck in Athen stand das Angebot von Bildungsminister Nikos Philis fest: Ein wertneutrales Fach "Religionswissenschaft" sollte an die Stelle des traditionellen, von der orthodoxen Kirche geprägten Religionsunterrichts treten. Dadurch würde die griechische Jugend vom Schuljahr 2016/17 an erstmals auch Grundkenntnisse des Islam und des jüdischen Glaubens erlangen - nicht zuletzt, um das Schicksal der Flüchtlinge besser verstehen und einordnen zu können. Ansätze dazu hat das Bildungsministerium bereits mit neuen, seit 2012 geltenden Lernplänen geliefert. In diesem Herbst sollten auch die Schulbücher erneuert werden. Dann würde die Vermittlung des orthodoxen Glaubens im Frontalunterricht endgültig der Vergangenheit angehören. Damit will sich der Erzbischof von Athen und ganz Griechenland, Hieronymus, jedoch nicht abfinden: In einem Brief an Ministerpräsident Alexis Tsipras kritisiert das Kirchenoberhaupt die neuen Schulbücher. Unter anderem beanstandet Hieronymus, dass der Religionsunterricht zur "Philosophie" verkomme, für politische Zwecke missbraucht werde und alle Religionen unter gemeinsamen Begriffen subsumiere. Unpassend findet er auch, dass die Flüchtlingskrise als "eine Frage der Sozialpsychologie", fernab von religiösen Begriffen, thematisiert werde. Der Bischof von Kalavryta, Amvrosios, setzte anscheinend das Gebot der Nächstenliebe vorübergehend außer Kraft und richtete noch viel deutlichere Worte an Bildungsminister Philis: "Möge seine Hand verdorren", erklärte der Kirchenvertreter in einer Predigt im März.

Im Streit mit der orthodoxen Kirche rudert Tsipras zurückBild: Reuters/C. Allegri

Nicht jeder kann die Kritik der orthodoxen Kirche nachvollziehen: "Es war doch Erzbischof Hieronymus selbst, der seine Zustimmung zu den neuen Lehrplänen erteilt hatte", moniert Jannis Ktistakis, Assistenzprofessor für Rechtswissenschaften an der Universität Thrakien, im Gespräch mit der DW. Ein engster Mitarbeiter von Hieronymus habe sich in den vergangenen Jahren an der Erarbeitung der neuen Lehrpläne beteiligt, gibt der Jurist zu bedenken. Die Kirchenvertreter hätten die neuen Lerninhalte praktisch mitentwickelt. Umso unverständlicher sei nun ihre späte Kritik und ihre Forderung nach einem "Dialog" mit dem Staat. Seine Version der Wahrheit erzählt der Metropolit von Naupakt, Ierotheos: "Bisher haben wir keinen echten Dialog mit dem Staat geführt. Der Dialog war nur ein Vorwand, und alles andere, was sonst darüber erzählt wird, ist schlicht irreführend", donnert der Kirchenvertreter im Gespräch dem Staatsfernsehen ERT.

Religionsunterricht wird zur Chefsache

Dass Bildungsminister Philis zu den Dogmatikern in der regierenden Linkspartei gehört und oft einen Eindruck von Hochmut übermittelt, macht die Sache nicht einfacher. Ministerpräsident Tsipras griff notgedrungen in die Debatte ein: Nach einem Treffen mit dem Bildungsminister und Erzbischof Hieronymus am vergangenen Mittwoch erklärten sich alle Beteiligten bereit, erneut in einen "Dialog" zu treten. Aber was heißt das genau? "Meine Schlussfolgerung ist, dass ich noch keine Schlussfolgerung habe", meinte ein irritierter Kirchenvertreter nach dem Versöhnungstreffen. Vermutlich wird der Streit nur verschoben. Immerhin pocht Bildungsminister Philis weiterhin darauf, dass der Unterricht an öffentlichen Schulen Angelegenheit des Staates sei. Tatsache ist aber auch: Die Kirche hat erreicht, dass die umstrittenen Schulbücher nicht in diesem Jahr kommen. Die Athener Zeitung "Kathimerini" sieht einen Rückzieher des Linkspremiers. Verfassungsrechtler Ktistakis kritisiert die Verzögerungstaktik des Klerus und spricht von der "Verweltlichung" einer orthodoxen Kirche, die sich nicht mehr auf ihre Hirtenpflicht beschränken will: "Seine Seligkeit (Hieronymus) tritt wie ein Politiker auf, sein Verhalten erinnert an Parteileute und Gewerkschaftsführer", moniert der Jurist. Ktistakis legt Wert auf die Feststellung, er wolle den Bildungsminister nicht politisch verteidigen, sondern auf die verfassungsmäßige Ordnung hinweisen.

Inwiefern auch die klare Trennung von Staat und Kirche zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören soll, bleibt in Hellas nach wie vor umstritten. Ktistakis und viele andere Staatsrechtler sprechen sich dafür aus. Die Kirche wehrt sich vehement dagegen - und sieht in der Reform des Religionsunterrichts möglicherweise einen Schritt in diese unerwünschte Richtung. In Griechenland bestimmt die Verfassung heute den orthodoxen Glauben als "vorherrschende Religion" im Land. Das bedeutet nicht zuletzt, dass der Staat seit 1946 Löhne und Gehälter für die orthodoxen Priester sichert. Linkspolitiker haben immer wieder angedeutet, dagegen vorzugehen zu wollen. Erzbischof Hieronymus beruft sich auf eine vertragliche Verpflichtung des Staates zur Lohnentrichtung, was Verfassungsrechtler Ktistakis anzweifelt: "Eine derartige Verpflichtung ist nicht ersichtlich. Auch seine Seligkeit hat noch keine Rechtsgrundlage dafür erwähnt", moniert der Jurist.

Staatskrise im Anmarsch?

Die Orthodoxe Kirche ist sehr einflussreich im LandBild: picture-alliance/Bildagentur-online

Nicht zum ersten Mal streiten in Griechenland Kirche und Staat. Schon Anfang der achtziger Jahre hatte der sozialistische Ministerpräsident Andreas Papandreou die Trennung von Kirche und Staat zum Ziel erklärt, sich aber nach Protesten des damaligen Kirchenoberhaupts Serafeim zu einem Rückzieher gezwungen gesehen. Dennoch gelang Papandreou ein Teilerfolg: Seine Regierung konnte erstmals die standesamtliche Trauung in Griechenland einführen und die Gleichberechtigung im Familienrecht verankern. Zum abermaligen Streit kam es 2001, als der sozialistische Regierungschef Kostas Simitis den Religionsvermerk im Personalausweis abschaffte. Der damalige Erzbischof Crhsitodoulos mobilisierte seine Anhänger und sammelte sogar drei Millionen Unterschriften gegen Simitis - letztlich ohne Erfolg.

Löst nun der reformierte Religionsunterricht erneut eine Staatskrise aus? Nach Auffassung von Professor Ktistakis wäre dies wohl der Fall, wenn Bildungsminister Filis zum Rücktritt gezwungen würde. Denn: "In den achtziger Jahren opferte Papandreou seinen Bildungsminister Tritsis, um die Reaktionen der Kirchen milder zu gestalten. Unter Simitis musste Justizminister Stathopoulos das gleiche Schicksal erfahren. Ob jetzt auch noch Philis geht? Dieser Vorgang würde von der verfassungsmäßigen Ordnung abweichen", sagt der Jurist.

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