Studenten in Deutschland - die Vergessenen der Krise
17. Oktober 2022Für Melissa ist Selbstkochen mittlerweile ein Luxus. Die 23-jährige Psychologiestudentin schlendert dann lieber in die Mensa ihrer Universität in Bonn. "Dort kann man für zwei bis drei Euro schon Mittagessen bekommen".
Dabei ist es nicht so, dass es für Melissa neu wäre, sparsam zu leben. Schon während ihrer Schulzeit war das Limit 25 Euro beim Wocheneinkauf. Die gestiegenen Preise machen dies nun aber unmöglich. "Mittlerweile bin ich schon bei 35 bis 40 Euro in der Woche, wenn ich wirklich einkaufe, um daheim zu kochen. Das merkt man schon ordentlich im Portemonnaie."
Der Studentin stehen jeden Monat 750 Euro BAföG und 219 Euro Kindergeld zur Verfügung. Von diesen knapp 1000 Euro gehen aber allein 400 für die Miete ihres 15 Quadratmeter-Zimmers in einer Wohngemeinschaft in Bonn drauf. "Essen ist auch das erste, woran ich spare. Ich muss ja nicht mit Pinienkernen kochen, dann gibt es eben nur Kartoffeln, Quark und Soja-Schnitzel."
In Zeiten, wo der Semesterbeitrag verlangt wird, wird es besonders eng im Geldbeutel. Dann sind auf einen Schlag 300 Euro weg - über die Hälfte von dem, was Melissa monatlich noch zur Verfügung hat.
Inflation und Energiekrise verschärft Situation der Studierenden
Laut dem diesjährigen Armutsbericht lebt fast jeder dritte Studierende in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze. Die Situation könnte sich durch die derzeitige Inflation und die nahende Energiekrise noch verschärfen, sagt. Andreas Aust, Sozialreferent des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes:
"Eltern werden jetzt auch zunehmend Probleme bekommen, ihre Kinder zu finanzieren. Das BAföG hat nicht nur das Problem, dass es von der Höhe zu gering ist, sondern vor allen Dingen ein Problem mit der Reichweite. Nur sehr wenige Studierende bekommen überhaupt diese Leistungen."
Tatsächlich erhält nur jeder neunte der knapp drei Millionen Studierenden in Deutschland die staatliche Unterstützung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG). Laut Definition sollte diese jeder Person, unabhängig ihrer sozioökonomischen Situation, ermöglichen, eine Ausbildung zu absolvieren.
BAföG-Höchstsatz trotz Erhöhung immer noch unter der Armutsgrenze
Die Bundesregierung hat nun eine Erhöhung der Grundsicherung für Studierende ab dem Wintersemester 22/23 um 5,75 Prozent durchgeboxt sowie die Einkommensgrenze der Eltern angepasst. Ab Oktober 2022 liegt der BAföG-Höchstsatz bei 934 Euro im Monat, sofern die Studierenden nicht mehr bei den Eltern wohnen. Doch das löse das Problem nicht, findet Aust, da die derzeitige Inflation von acht Prozent diese Erhöhung "einfach auffrisst".
Auch Rahel Schüssler vom freien Zusammenschluss der Student*innenschaften (fzs), der fast ein Drittel aller Studierenden in ganz Deutschland vertritt, sieht die Anpassung der Bundesregierung als zu gering an: "Der BAföG-Höchstsatz liegt trotzdem immer noch unter der Armutsschwelle in Deutschland". Zum Vergleich: Eine Person gilt in Deutschland als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 1251 Euro im Monat verfügt.
200 Euro Energiepauschale Tropfen auf dem heißen Stein
Aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten sei es mittlerweile nicht unüblich, dass Studierende bis zu zwei Nebenjobs aufnehmen, um ihr Studium zu finanzieren, betont Schüssler: "Man arbeitet eigentlich nur, um studieren zu können. Wegen der Arbeit kommt man aber nicht mehr zum Studieren."
Es gibt keine offiziellen Statistiken, wie viele Studierende das Studium in den letzten zwei Jahren abgebrochen haben. Doch Schüssler hat von vielen Studierenden gehört, dass der finanzielle Aspekt eine entscheidende Rolle dabei gespielt habe. "Die Entscheidung zum Abbruch fällt auch wegen der steigenden Preise. Um sich vielleicht nicht nur einen 450 Euro-Job zu suchen, sondern dann lieber gleich 40 Stunden die Woche zu arbeiten."
Auch die 200 Euro Energiepauschale, die von der Bundesregierung als Einmalzahlung an die Studierenden ausgezahlt werden soll, sehen die Experten als eher "symbolischen Akt" an. Hinzu kommt ein administratives Problem bei der Auszahlung der Pauschale - laut Aust sei noch "völlig unklar, wie das Geld die Studierenden eigentlich erreichen soll."
Die Anzahl der Erstsemester an deutschen Hochschulen ist rückläufig
Jeder zweite Studierende wird laut einer Studie des Studentenwerkes von den Eltern finanziell unterstützt. Für Andreas Aust ist klar, dass die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise sich auch mittelfristig auf die Bildungschancen in Deutschland auswirken werden:
"Diejenigen, die knapp bei Kasse sind, werden sich das doppelt und dreifach überlegen, ob sie ihre Kinder unter diesen Bedingungen zum Studieren schicken. Oder ob man nicht doch lieber einen eher einen traditionelleren Weg wählt und Geld verdient. Und nicht weiter in die Ausbildung investiert."
Laut dem Statistischen Bundesamt ging die Zahl der Erstsemester 2021 weiter zurück. Was demografische Gründe hat, andererseits aber auch mit der Corona-Pandemie zusammenhängt - warum studieren, wenn man sowieso nur zu Hause sitzt?
Erneute Hochschulschließungen werden diskutiert
Denn die Universitäten waren die ersten öffentlichen Orte, die zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ihre Türen schlossen. Und die letzten, die sie wieder öffneten. Nach einer kurzen Präsenzphase könnte es jetzt wieder passieren, dass Studierende vor verschlossenen Türen stehen – der Grund: die gestiegenen Energiepreise.
Hochschulen gelten laut Bundesnetzagentur als Teil der kritischen Infrastruktur und haben somit Vorrang bei der Energieversorgung im Winter. Die ersten Universitäten überlegen trotzdem, ob sie aufgrund der hohen Energiekosten die Öffnungszeiten verkürzen oder die Weihnachtsferien verlängern - Leidtragende wären erneut die Studierenden. Die Technische Universität Berlin zum Beispiel plant eine "Jahresendschließung" vom 19.Dezember bis zum 4.Januar: alle Heizungen werden heruntergedreht, alle Lichter gelöscht und alle Türen abgeschlossen.
Rahel Schüssler sagt zum möglichen neuen Campus-Lockdown: "Wenn es eine Schließung der Universitäten geben sollte, dann ist das einfach eine Verlagerung der Probleme. Die Stromkosten müssen irgendwo gezahlt werden und am Ende sind es die Studierenden, die das zahlen, weil sie zu Hause lernen."