1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Studentinnen kämpfen gegen Sexismus in Chile

Marco Müller
6. Juni 2018

Studentinnen in Chile besetzen seit Wochen Universitäten, um auf sexuelle Belästigung und Missbrauch aufmerksam zu machen - und haben damit eine gesellschaftliche Debatte angestoßen. Aus Santiago Sophia Boddenberg.

Studentinnen mit freiem bemalten Oberkörper beim Protestmarsch (Foto: picture-alliance/dpa/Agencia Uno/C. Escobar)
Studentinnen protestieren bei einer Kundgebgung der Konföderation Chilenischer Studenten in Santiago gegen SexismusBild: picture-alliance/dpa/Agencia Uno/C. Escobar

Übereinander gestapelte Stühle versperren den Eingang der renommierten Universidad de Chile in Santiago. Studentinnen haben die Universität besetzt und streiken. "Toma Feminista" steht auf einem großen Bettlaken am Eingang, zu Deutsch "feministische Besetzung".

Vorlesungssäle sind zu Schlafsälen geworden. Statt Seminare zu besuchen, sprechen die Studentinnen über Feminismus und geben Rechtsberatung bei Missbrauchsfällen. Der Anlass für ihren Protest: Sexismus, Missbrauch und Belästigung an Chiles Universitäten. Die Universidad Austral im Süden Chiles und die Universidad de Chile in der Hauptstadt Santiago waren die ersten beiden Universitäten, die im April besetzt wurden. Danach breitete sich der Protest wie ein Lauffeuer aus. Mittlerweile sind über 20 Universitäten im ganzen Land besetzt, auch Schulen haben sich angeschlossen.

Eine spricht für viele

Der Fall von Sofía Brito war der Auslöser der ProtesteBild: DW/S. Boddenberg

An der Universidad de Chile war es der Fall von Sofía Brito, der die Besetzung auslöste. Sie ist 24 Jahre alt und studiert Jura. Drei Jahre lang arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihren Professor Carlos Carmona, ehemaliger Präsident des chilenischen Verfassungsgerichts. Er habe sie mehrfach ohne ihre Zustimmung berührt, sagt die Studentin. Als sie ihn auf die Grenzüberschreitung hinwies, habe er gesagt, er wolle keine Grenzen akzeptieren. Vor neun Monaten zeigte sie den Fall an, aber die Universität reagierte lange nicht. Carmona wurde zwar mittlerweile für drei Monate suspendiert, aber die Studentinnen fordern seine Entlassung.

Mit der Besetzung der Universität wollen sie aber nicht nur auf den Fall von Sofía Brito aufmerksam machen, sondern auf den strukturellen Charakter des Sexismus an chilenischen Universitäten. "Mein Fall ist keine Ausnahme, er brachte nur das Fass zum Überlaufen. Die chilenischen Universitäten reagieren nicht auf die Probleme und Situationen, die wir als Frauen erleben. Es gibt keine Protokolle und Regeln. Deshalb fordern wir eine Bildung ohne Sexismus im ganzen Land, um diese Situationen zu vermeiden", sagt Brito. Sie wechselte ihren Schwerpunkt im Studium von Öffentlichem Recht zu Arbeitsrecht, um Carmona aus dem Weg zu gehen. Weil es keine verbindlichen Regeln der Universitäten zum Schutz der Opfer gibt, seien es letztendlich die Studentinnen, die Bildungseinrichtungen verlassen müssen und nicht die Täter. "Es gibt einen Machtmissbrauch der Professoren gegenüber den Studentinnen. Die männlichen Professoren vermitteln uns, dass körperliche Gefälligkeiten die einzige Möglichkeit sind, um Erfolg in unseren Karrieren zu haben", sagt Brito.

Mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen, habe ihr bisher mehr Schaden als Nutzen gebracht, aber sie wolle für alle die sprechen, die es bisher nicht konnten. Einer Umfrage der Zeitung Publimetro zufolge gab es 228 Anzeigen von sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch an chilenischen Universitäten im Jahr 2016. Aber die Dunkelziffer ist hoch, da die meisten Studentinnen schweigen.

Die Reaktionen von Rektoren und Politikern

Studentinnen besetzen die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universidad de ChileBild: DW/S. Boddenberg

Nach und nach reagieren Rektoren der Universitäten und Politiker. Ennio Vivaldi, der Rektor der Universidad de Chile, betonte, die Universität habe bereits Maßnahmen ergriffen, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern und Opfern zu helfen. Mit den Besetzungen ist er nicht einverstanden. "Es gibt viel angestaute Wut und Frustration, die zu unverständlichen Maßnahmen führen", sagte er in einer öffentlichen Erklärung. Bildungsminister Geraldo Verela sorgte mit einer Aussage für Empörung: "Es gibt bereits Gesetze gegen Vergewaltigung, Belästigung und Missbrauch, aber jetzt müssen wir auch gegen diese kleinen alltäglichen Demütigungen vorgehen." Studentenführerinnen bezeichneten die Aussage als Schlag ins Gesicht, da bei ihren Forderungen nicht um "kleine Demütigungen" gehe.

Auch Präsident Sebastián Piñera sah sich gezwungen, zu reagieren. Er stellte eine "Agenda Mujer" vor, eine "Frauenagenda". Er wolle Gesetzesprojekten Vorrang geben, die Gewalt in Paarbeziehungen bestrafen, und das Recht auf Kinderbetreuung garantieren. Bezüglich der Forderungen der Studentinnen wolle er ein Gesetz für staatliche Universitäten erlassen, das Missbrauch vorbeugt und verbietet. Vertreterinnen der feministischen Studentenbewegung bezeichneten die von Piñera angekündigten Reformen allerdings als symbolisch und unzureichend, da sie keine strukturellen Veränderungen bringen würden, wie die Studentinnen fordern. 

Versammlung von Studentinnen an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile Bild: DW/S. Boddenberg

Die erste feministische Studentenbewegung

"Nein heißt nein", rufen die Studentinnen im Mai bei Protestmärschen in verschiedenen Städten Chiles. Viele protestieren oberkörperfrei, auf ihren Plakaten steht "Für eine Bildung ohne Sexismus" oder "Machos werden nicht geboren, die chilenische Bildung macht sie dazu". Es sind die ersten Protestmärsche der nationalen Studentenkonföderation Confech, die sich speziell gegen Sexismus in der Bildung richten. Über 100.000 Studentinnen und Studenten protestieren in ganz Chile, allein mehr als 25.000 in Santiago. Die Studentinnen sprechen von einer feministischen Studentenbewegung. Für Sofía Brito ein historischer Moment in Chile: "Wir haben die Augen geöffnet und gemerkt, dass die Gewalt, die wir erleben, nicht natürlich und normal ist. Und das wird zu einem radikalen Wandel führen."