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Politik

"Kinderarmut ist Dauerzustand in Deutschland"

23. Oktober 2017

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung länger in Armut. Wer einmal arm sei, bleibe lange arm, warnt die Stiftung und fordert ein Umdenken in der Familien- und Sozialpolitik.

Kinderarmut, Junge beim Sammeln von Pfandflaschen (picture-alliance/Joker/W.G. Allgöwer)
Bild: picture-alliance/Joker

Wie viele Kinder in armen Verhältnissen leben, ist bekannt. Nun aber haben Forscher in einer Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstmals über einen längeren Zeitraum untersucht, wie undurchlässig die sozialen Milieus sind. Demnach haben von Armut betroffene Kinder oft keine Chance, dieser Situation zu entkommen. 21 Prozent aller Mädchen und Jungen in Deutschland lebten dauerhaft oder wiederkehrend in einer Notlage, heißt es in der Studie. Weitere zehn Prozent seien kurzzeitig von Armut betroffen.

Verzicht auf soziale und kulturelle Aktivitäten

"Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien", sagte Stiftungs-Vorstand Jörg Dräger bei der Vorstellung der Untersuchung in Gütersloh.Als arm gelten Menschen, die in Haushalten leben, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung stehen oder die staatliche Grundsicherungsleistungen beziehen. Besonders häufig betroffen sind den Angaben zufolge Kinder alleinerziehender Eltern, solche mit mindestens zwei Geschwistern oder mit gering qualifizierten Eltern.

Statistisch gesehen lebt eines dieser Kinder längere Zeit in ArmutBild: picture-alliance/dpa

Armutsdefinitionen sind nicht unumstritten. Auch die Bertelsmann-Stiftung unterstrich, dass Armut in Deutschland in der Regel nicht heiße, dass die "existenzielle Grundversorgung" fehle. In Deutschland bedürftig zu sein bedeute aber, auf vieles verzichten zu müssen, was für andere normal sei. Vor allem soziale und kulturelle Aktivitäten seien für benachteiligte Kinder nur eingeschränkt möglich, schreiben die Autoren der Studie.

Arme Kinder haben schlechtere Chancen in der Schule

Um messbar zu machen, was arme Kinder entbehren, fragten die Wissenschaftler, welche 23 Güter und Aspekte aus finanziellen Gründen in den Familien fehlen. Darunter fallen etwa Kinobesuche, das Einladen von Freunden, Computer mit Internetzugang oder eine angemessen große Wohnung. Kinder in einer dauerhaften Armutslage geben laut Studie an, dass ihnen im Schnitt 7,3 der abgefragten Güter fehlen. Kinder mit zwischenzeitlicher Armutserfahrung geben an, im Durchschnitt auf 3,4 Dinge verzichten zu müssen. Kinder, die dauerhaft in gesicherten Verhältnissen leben, fehlen aus finanziellen Gründen im Schnitt nur 1,3 der abgefragten 23 Güter.

Die Armutserfahrung im Kindesalter wirke sich nachteilig auf die Zukunftsperspektiven aus, hieß es. Wer schon als Kind arm sei und nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne, habe auch in der Schule nachweisbar schlechtere Chancen. Das verringere die Möglichkeiten, später ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Armut zu führen.

Bertelsmann-Vorstand fordert neue Familienpolitik

Dräger forderte, die "Vererbung" von Armut zu durchbrechen. Dazu sei ein Paradigmenwechsel in der Politik notwendig. Kinder könnten sich nicht selbst aus der Armut befreien, sie hätten deshalb ein Anrecht auf Existenzsicherung, die ihnen faire Chancen und gutes Aufwachsen ermögliche. Im Sozialgesetzbuch würden Kinder bislang wie "kleine Erwachsene" behandelt, kritisierte Dräger. Er forderte, die Förderung müsse sich stattdessen daran orientieren, Kindern ein "gutes Aufwachsen" zu ermöglichen. Dazu müssten der Bedarf von Kindern und Jugendlichen systematisch erfasst, in den Mittelpunkt des politischen Handelns gerückt, und die bisherigen familienpolitischen Leistungen neu gebündelt werden.

Kinobesuche - für arme Familien oft nicht drinBild: picture-alliance/dpa

Erstellt hatte die Studie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit. Dabei werteten die Forscher die Daten von mehr als 3100 Kindern über einen Zeitraum von fünf Jahren aus und konnten so nachvollziehen, wie sich die Einkommenssituation in deren Haushalten in dieser Zeit änderte.

Besonders hohes Armutsrisiko für Alleinerziehende

Laut einem Bericht der "Saarbrücker Zeitung" hat sich vor allem das Armutsrisiko von Alleinerziehenden in den letzten Jahren spürbar erhöht. 2016 verfügten mehr als 43 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe über entsprechend geringe Einkünfte. Im Jahr 2005 lag der Anteil noch bei unter 40 Prozent.Das Blatt beruft sich für seine Angaben auf aktuelle Daten der Bundesregierung, die die Sozialexpertin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, abgefragt hatte. Demnach war deutlich mehr als jeder dritte Alleinerziehenden-Haushalt mit minderjährigen Kindern auf Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) angewiesen. In absoluten Zahlen waren das 606.000 Haushalte - knapp 42.000 mehr als noch im Jahr 2005.

Immer mehr Alleinerziehende in Deutschland sind armBild: picture alliance/dpa/M. Kusch

cw/sti (dpa, kna, afp)

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