Fast elf Millionen Menschen sind in den ersten sechs Monaten des Jahres vor Krieg und Unwettern innerhalb ihrer Länder geflohen. Das zeigt eine aktuelle Studie. Die Zahlen könnten im Laufe des Jahres noch weiter steigen.
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Rund sieben Millionen Menschen sind laut einer Studie in den ersten sechs Monaten 2019 innerhalb ihres Landes vor extremen Wettersituationen und Naturkatastrophen geflohen. Das sei ein historischer Höchststand, erklärte eine Sprecherin des Beobachtungszentrums für Binnenflüchtlinge (IDMC) in Genf.
Zu den schlimmsten Wetterkatastrophen gehörten bis Juni demnach unter anderem Zyklon "Fani" in Indien und Bangladesch sowie Zyklon "Idai", der vor allem in Mosambik, aber auch Malawi, Simbabwe und Madagaskar wütete. Überschwemmungen wie im Iran, in Äthiopien, Bolivien und auf den Philippinen seien ähnlich zerstörerisch gewesen. Viele Wetterextreme wie Stürme, Fluten und Dürren gehen laut Experten des Weltklimarates direkt auf die Erderwärmung zurück. Der Direktor des Norwegischen Flüchtlingsrats Jan Egeland bezeichnet die Befunde der Studie als "schockierend".
Auch positive Entwicklungen verzeichnet
Weitere 3,8 Millionen Menschen flüchteten im ersten Halbjahr 2019 den Angaben nach innerhalb der Grenzen ihres Landes vor Gewalt und Konflikten. Zu besonders massiven Fluchtbewegungen sei es innerhalb der Länder Syrien, Jemen, Afghanistan, Libyen und der Demokratischen Republik Kongo gekommen.
Die Zahlen weisen allerdings auch auf Verbesserungen hin. Zyklon "Fani" verursachte beispielsweise 3,4 Millionen neue Binnenflüchtlinge. Diese gehen allerdings auf eine groß angelegte Evakuierung zurück. Viele der Flüchtlinge verloren zwar ihr Zuhause durch den Sturm, konnten aber danach zurückkehren. In Mosambik hingegen wurden die Menschen vor Zyklon "Idai" ebenfalls evakuiert, viele leben aber immer noch in eingerichteten Zeltstädten und können nicht zurückkehren.
Zahlen könnten noch steigen
Bis Jahresende könnte sich die Zahl der durch Wetterereignisse Vertriebene auf 22 Millionen mehr als verdreifachen, schreibt die Beobachtungsstelle. Zur Begründung heißt es, die zweite Jahreshälfte sei anfälliger für Wetterrisiken. Damit könnte 2019 eines der verheerendsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen werden, so die IDMC. "Der Fakt, dass die meisten Vertreibungen mit Stürmen und Überschwemmungen zusammenhingen, legt nahe, dass Massenvertreibung durch extreme Wetterereignisse zur Norm wird", schreibt die Organisation.
Das Beobachtungszentrum wurde vom unabhängigen Norwegischen Flüchtlingsrat gegründet, um Daten über Fluchtbewegungen innerhalb von Ländern zu sammeln und Analysen zu erstellen. Die Beobachtungsstelle wertet für den Bericht Daten von Regierungen, Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen sowie Medienberichte aus.
Jemen: Auf der Flucht im eigenen Land
Nur wenige Menschen fliehen vor dem Krieg im Jemen über die Landesgrenzen hinaus - die meisten sind Binnenflüchtlinge. Doch wer in ein Flüchtlingslager entkommen kann, ist noch lange nicht in Sicherheit.
Bild: Reuters/K. Abdullah
Von allem zu wenig
Der Krieg im Jemen geht ins vierte Jahr, ein Ende ist nicht in Sicht. Knapp 300.000 Menschen haben das Land seither verlassen, die überwiegende Mehrheit jedoch sind Binnenflüchtlinge. Rund drei Millionen Menschen hausen seit 2015 in improvisierten Lagern, wie dem in der Nähe von Abs in der nordwestlichen Küstenprovinz Hadscha. Doch dort fehlt es an allem: Wasser, Nahrung und Medikamenten.
Bild: Reuters/K. Abdullah
Größte humanitäre Krise der Welt
24 Millionen Menschen - rund 80 Prozent der Bevölkerung - benötigen dringend Hilfe. Bedroht sind vor allem die Kleinsten: Laut UNICEF stirbt alle zehn Minuten mindestens ein Kind an den Folgen von Hunger und Mangelernährung. Die UN brauchen in diesem Jahr 4,2 Milliarden US-Dollar Hilfsgelder für den Jemen - und hoffen auf Zusagen der Mitgliedsstaaten bei der Geberkonferenz in Genf.
Bild: Reuters/K. Abdullah
In der Abwärtsspirale
Der Jemen steckte bereits lange vor 2015 in einer politischen Krise. Der Machtkampf zwischen Regierung, Rebellen und Terrorgruppen trieb viele Menschen in die Flucht. Zudem lebten 50 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, 70 Prozent der Landbevölkerung hatten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder medizinischer Versorgung. Mit Beginn des Krieges explodierten die Flüchtlingszahlen.
Bild: Reuters/K. Abdullah
Kindheit ohne Zukunft
Viele Familien kommen aus den umkämpften Landesteilen in die Provinz Hadscha, die ein Fünftel aller Binnenflüchtlinge beherbergt. Sicherer ist es hier nicht unbedingt - vor allem nicht für junge Mädchen. Laut der Hilfsorganisation Oxfam sind viele Eltern gezwungen, ihre Töchter bereits im Kleinkindalter zu verheiraten, um von der Mitgift Nahrungsmittel kaufen zu können.
Bild: Reuters/K. Abdullah
Cholera-Epidemie
Bevor die Krise eskalierte, importierte das Land 80 bis 90 Prozent seiner Nahrungsmittel. Nun ist der Flughafen in Sana'a geschlossen, die Häfen hart umkämpft. Lebenswichtige Hilfsgüter gelangen nur unzureichend ins Land. Mehr als 13 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser - Krankheiten breiten sich aus. Ende 2017 war rund eine Million Menschen an Cholera erkrankt.
Bild: Reuters/K. Abdullah
Improvisiertes Zuhause
Binnenflüchtlinge bauen eine provisorische Unterkunft im Camp in Abs. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat hier im vergangenen Jahr zusammen mit den Geflohenen 4.700 sogenannte Öko-Hütten gebaut. Sie bestehen aus Erde, Gras und Tierdung und sollen sowohl vor Regen als auch vor Hitze schützen. Wann und ob die Menschen wieder in ihre Heimatregionen zurückkehren können, ist unklar.
Bild: Reuters/K. Abdullah
"Kinder haben den Krieg nicht begonnen"
"Kinder haben den Krieg im Jemen nicht begonnen, aber sie zahlen den höchsten Preis", sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres deshalb bei der Geberkonferenz. Laut einem Bericht der Kinderrechtsorganisation Save the Children sind seit 2015 mehr als 80.000 Kinder unter fünf Jahren verhungert. Mehr als 120.000 sind vom Hungertod bedroht. Fußballspielen können nur noch wenige.