Dramatische Entvölkerung
22. August 2008Europa steht ein tiefgreifender Wandel ins Haus. Seit Jahrzehnten rückläufige Geburtenzahlen führen jetzt schon zu einer Überalterung und bald auch zu einem Rückgang der Bevölkerung. Während Nordeuropa den demografischen Wandel am besten bewältigen werde, sei für weite Teile Osteuropas, aber auch Südeuropas eine dramatische Entvölkerung zu erwarten. Die vom "Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung" vorgestellte Untersuchung empfiehlt weitreichende politische Reformen, um die Veränderungen zu bewältigen.
Einer der Autoren der Studie, die diese Entwicklung untersucht hat, ist Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Er stellt fest: "Ohne Zuwanderung kann Europa nicht demografisch stabil bleiben. Die heutigen EU-25-Länder würden ohne Zuwanderung 50 Millionen Einwohner verlieren bis zum Jahr 2050."
Mehr Frauen im Job = mehr Kinder
Für die Untersuchung haben die Forscher Europa - mit Ausnahme Russlands - in 285 Regionen unterteilt. Das zeichnet ein sehr detailreiches Bild der Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten. In diesem Rahmen geht die Studie auch den Ursachen der regional sehr unterschiedlichen Entwicklung nach. So sieht Kröhnert die Ansicht widerlegt, dass eine hohe Erwerbstätigkeit von Frauen zu niedrigen Geburtenzahlen führt. Das Gegenteil sei der Fall. Je mehr Frauen in einem Land im Beruf stehen, desto höher sei dort tendenziell die Kinderzahl, sagt er. "Staaten, die es schaffen, Kinder und Beruf für beide Partner vereinbar zu machen – das sind insbesondere die skandinavischen aber auch Frankreich – haben demografisch eindeutig die Nase vorn."
Für Kröhnerts Kollegen Reiner Klingholz ergibt sich daraus für Länder mit niedrigen Geburtenraten wie Deutschland eine eindeutige Vorgabe: Sie sollten sich an der Politik erfolgreicherer Länder orientieren. "Es gibt nach Lektüre dieser Studie keine Entschuldigung mehr, notwendige Reformen nicht beherzt und sofort anzupacken. Was in Schweden und Norwegen funktioniert, kann in Deutschland auch funktionieren."
Wachstum nur in Metropolen
Gerade in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern wird der Geburtenmangel noch verstärkt durch eine anhaltende Abwanderung – mit weitreichenden Konsequenzen, so Kröhnert. Gerade in Ost-Europa zeige sich, dass unter diesen "Abwanderungsbedingungen", wirtschaftliches Wachstum fast ausschließlich in den Metropolregionen stattfinde. "Während Hauptstadtregionen wie Prag, Bratislava oder Budapest den Vergleich mit Westeuropa heute nicht mehr zu scheuen brauchen, bleiben ländliche Regionen etwa im Osten Polens oder im Süden Ungarns weit zurück", erläutert er. Damit würden sich die Abstände zwischen den Regionen noch vergrößern, obwohl die Länder insgesamt zum europäischen Durchschnitt aufschließen.
Ostdeutschland unterscheidet sich davon insofern, als die Metropolregion Berlin kein Wachstum aufweisen kann. Weder wirtschaftlich, noch an Einwohnern. Worauf Ostdeutschland zusteuert, merken jetzt schon Betriebe, die nicht mehr genug Nachwuchs finden. Und das, sagt Reiner Klingholz, ist erst der Anfang: "Was heute der Lehrlingsmangel ist, ist in drei Jahren ein Studentenmangel und in zehn Jahren ein Elternmangel. Deswegen wird bald schon eine halbierte Elterngeneration auf die neuen Bundesländer zukommen, mit entsprechenden Folgen." Unter den zehn am stärksten vom Schwund betroffenen Regionen in ganz Europa liegen nach den Ergebnissen der Demografen allein drei in Ostdeutschland – Chemnitz, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Umsiedlung von Senioren empfohlen
Die Sozialforscher empfehlen deswegen, die verbleibende, meist ältere Bevölkerung in den ländlichen Gebieten dieser Regionen in Städte umzusiedeln – sonst sei ihre Versorgung nicht mehr zu gewährleisten.