Millionen erhielten nicht den Mindestlohn
29. Januar 2018Besonders in den Branchen mit vielen Kleinbetrieben und Minijobs werde Schindluder getrieben, oft werde auch mit Arbeitszeiten, Pausen oder Scheinselbstständigkeit getrickst: Im Jahr 2016 hätten in Deutschland etwa 2,7 Millionen Beschäftigte nicht den damals vorgeschriebenen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde bekommen, beklagt eine jetzt veröffentlichten Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Das war fast jeder zehnte Arbeitnehmer. Dabei sind die legalen Ausnahmen vom Mindestlohn in diese Statistik erst gar nicht eingegangen.
Brisantes Teilergebnis der Analyse: In Unternehmen ohne Betriebsrat und Tarifvertrag werden die Bestimmungen besonders häufig unterlaufen. In solchen Firmen werden laut der Studie 18,6 Prozent der Beschäftigten unterhalb des Mindestlohns bezahlt. In Betrieben mit Arbeitnehmervertretung und Tarifvertrag lag die Quote der Umgehungen vor zwei Jahren demnach bei nur 3,2 Prozent.
Bereits das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte vergangenes Jahr festgestellt, dass insgesamt 1,8 bis 2,6 Millionen Beschäftigte für Gehälter unterhalb des Mindestlohns arbeiteten. Die WSI-Zahlen liegen demnach höher, weil Überstundenzuschläge einberechnet wurden und die Zahl der Beschäftigten mit Mindestlohn-Anspruch in der Pflege und am Bau genauer bestimmt wurde.
Eine Großzahl der Verstöße wurde mit rund 43 Prozent der Beschäftigten in privaten Haushalten registriert, wohl deshalb, weil die Einhaltung der gesetzlichen Lohnuntergrenze hier kaum zu kontrollieren ist. Im Hotel- und Gaststättengewerbe betrug die Umgehungsquote demnach 38 Prozent, im Einzelhandel 20 Prozent. Deutlich unter dem Durchschnitt lag die Quote der Verstöße unter anderem in der Energieversorgung, der Entsorgungswirtschaft und bei Banken.
Auch deutliche Fortschritte
Dass die gesetzlichen Reformen trotzdem die Bezahlung vieler Geringverdiener spürbar verbessert haben, zeigt sich nach Ansicht des WSI-Arbeitsmarktexperten Toralf Pusch unter anderem an kräftigen Lohnsteigerungen für ungelernte Arbeitskräfte und in Branchen mit vielen Niedrigverdienern. Nach Jahren der Stagnation legten etwa die Löhne im Gastgewerbe nach Einführung der Lohnuntergrenze um 9,9 Prozent, im Einzelhandel um 11,4 Prozent und in der Fleischverarbeitung um 11,6 Prozent zu.
"Einladung zum Beschiss"
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zeigte sich empört über die häufige Umgehung des Mindestlohns. Die Ergebnisse der Studie sollten "jenen Arbeitgebervertretern und politisch Verantwortlichen die Schamesröte ins Gesicht treiben", die sich für weitere Mindestlohn-Ausnahmen stark machen, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell der "Süddeutschen Zeitung", die zuerst über die Studie berichtet hatte. "Kämen sie damit durch, wäre das nichts anderes als eine gesetzlich legitimierte Einladung zum Beschiss."
Mehr Bußgelder verhängt
Nach jüngsten Angaben des Bundesfinanzministeriums leitete der Zoll im Jahr 2017 etwa 2500 Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die gesetzliche Lohnuntergrenze ein. In jedem zweiten Fall habe das Unternehmen Strafe zahlen müssen, hieß es als Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei. Es seien Bußgelder in Höhe von mehr als 4,2 Millionen Euro fällig geworden. Linken-Chef Bernd Riexinger geht jedoch davon aus, dass viele Verstöße nicht aufgedeckt werden. "Allein schon der ermittelte Schaden von 5,5 Millionen Euro bei 2521 Ermittlungsverfahren gegen Mindestlohnverstöße 2017 ist ein Skandal", sagte Riexinger.
Die nun präsentierten Studienergebnisse des WSI beruhen auf einer Auswertung des sozio-ökonomischen Panels. Dabei werden jedes Jahr in Deutschland etwa 30.000 Menschen in fast 11.000 Haushalten befragt, was sie arbeiten und verdienen.
SC/as (afp, dpa)