Sucht im Alter
6. September 2012Wenn man jung ist, wirkt es irgendwie verwegen, das Glas zu viel, der Absturz, der Blackout am nächsten Tag. Wenn man jung ist, ist Alkohol zwar nicht weniger schädlich als im Alter, aber akzeptierter. Anna-Lisa ist 76 und spricht von Schuld und Scham, wenn sie von sich und dem Alkohol, von den Tabletten und den Rauschzuständen berichtet. Seit einigen Monaten macht die zierliche Frau eine Therapie im Kamillushaus, einer Suchtklinik in Essen: "Ältere Menschen haben da eine größere Scham, weil man das Trinken mit Schuld verbindet, mit Versagen."
Länger leben - länger trinken
Alkoholkonsum und auch Alkoholmissbrauch sind in höheren Altersgruppen generell seltener als in jüngeren. So steht es in einem Bericht der deutschen Bundesregierung vom 24. Mai 2012. Hier steht aber auch, es sei "zu erwarten, dass allein aufgrund der demographischen Entwicklung die Zahl der älteren Menschen mit Alkoholerkrankungen zunehmen wird". Die Deutschen werden immer älter - in 20 Jahren werden 30 Prozent der Deutschen älter als 80 Jahre sein; andererseits steige auch ihr Alkoholkonsum.
Heute schon sind etwa zwei Drittel derer, die im Alter süchtig sind, Süchtige, die eben einfach alt geworden sind. Es gibt auch die, die in ihrem Leben einmal süchtig waren, die Sucht überwunden hatten und im Alter wieder süchtig werden, so wie Anna-Lisa, die nach einer Reihe von Schicksalsschlägen mit 70 wieder angefangen hatte zu trinken.
"Ich wusste zwar, dass das erste Glas lehrgemäß Rückfall bedeutet, aber ich habe gedacht, ich kann mir jetzt leisten zu leben wie andere Menschen auch. Dann habe ich Alkohol getrunken. Das war wunderschön, befreiend zunächst, erlösend." Schnell verlor sie aber erneut die Kontrolle über das Trinken, kombinierte Alkohol mit Beruhigungstabletten und landete schließlich auf der Intensivstation eines Essener Krankenhauses.
Tabletten und Alkohol sind die Rauschstoffe
Es gibt auch ältere Menschen, die gerade erst durch den "biographischen Bruch" süchtig werden, wenn sie Freunde und Partner mit steigendem Alter verlieren, vereinsamen und unter Depressionen und Ängsten leiden, weil sie für die Gesellschaft plötzlich nicht mehr so interessant und wichtig sind, weil das, was sie in den vergangenen 40 Jahren geleistet haben, auf einmal niemandem mehr so sehr interessiert.
Die meisten Senioren greifen dann zu Tabletten und Alkohol, heißt es im Bericht der Bundesregierung. Genaue Zahlen gebe es aber nicht. Nur Schätzungen. So sollen im Durchschnitt sieben Prozent der Bewohner in stationären Pflegeeinrichtungen medikamentenabhängig sein, acht bis zehn Prozent alkoholabhängig. In stationären Einrichtungen sei Sucht im Alter eher ein Thema als im betreuten Wohnen oder in privaten Haushalten.
Alkoholsucht ist aber unter der jetzigen Generation 80 Plus ein Tabu, sagt Hedi Blonzen, Leiterin eines Seniorenheims in Essen. Die Sucht werde von den Betroffenen nicht als Krankheit wahrgenommen, sondern als Fehlverhalten, für das sie sich schämten. Außerdem würden Produkte wie "Melissengeist" in dieser Generation noch als gesundheitsfördernd gelten - dabei besteht das Wässerchen, das man für 13 Euro in jedem Drogeriemarkt kaufen kann, zu 79 Prozent aus Alkohol. Ein Hochprozentiger, der mit Fanta vermischt zum "Alkopop der Senioren" werde, so Hedi Blonzen.
Suchthilfe und Altenhilfe müssen zusammenarbeiten
Etwa zehn Prozent der Bewohner ihres Heims seien abhängig von Alkohol oder Schlafmitteln und Beruhigungsmitteln, sagt sie. Die Sucht erkenne das Personal unter anderem daran, dass die Bewohner sich zurückziehen, "dass sie uns nicht an ihre Schränke gehen lassen, dass sie bei Veranstaltungen besonders eifrig dem Alkohol zustimmen, dass sie sich einfach sehr viel gehemmter verhalten dadurch." Dann müsse man sehr behutsam vorgehen, damit die Betroffenen sich aus Scham nicht völlig zurückziehen. Denn die, die zu viel trinken, würden das vor allem wegen des Alleinseins und aus Einsamkeit tun.
Eingreifen aber müsse man, denn süchtige Bewohner seien nicht nur eine Gefahr für sich, sondern auch für das Personal und andere Bewohner im Haus. Ein älterer Körper kann Alkohol weniger gut verarbeiten als ein jüngerer, weil der Stoffwechsel sich verlangsamt und in alten Körpern weniger Wasser ist, das den Alkohol lösen kann. Die älteren Süchtigen sind aggressiver, vergesslicher, ihr Gang wird schnell unsicher, die Sturzgefahr erhöht sich dadurch. Alkohol kann das Gehirn sogar regelrecht zerstören und zu einer Alkohol-Demenz führen, dem Korsakow-Syndrom. "Sucht im Alter war immer ein Thema, es ist nur nicht beachtet worden", sagt Hedi Blonzen.
Das soll sich ändern durch Projekte, bei denen Suchthilfe und Altenhilfe zusammen arbeiten. In Essen gibt es ein solches Projekt, das von der Bundesregierung finanziell gefördert wird. Psychologe Arnulf Vosshagen leitet es. "Alkoholsucht ist eine Krankheit, die einerseits gut zu behandeln ist, andererseits aber eine, wo die Mitarbeit desjenigen sehr zentral ist. Da fällt es älteren Menschen eben schwer, die Sucht für sich zu sehen und zu akzeptieren." Im Essener Projekt tauschen sich die Mitarbeiter von Altenhilfe- und Suchthilfeeinrichtungen regelmäßig aus, besprechen Fälle und verbessern die Ausbildung des Pflegepersonals.
Lieber aktiv statt sediert
Immer wieder hört Psychologe Arnulf Vosshagen, dass es sich doch gar nicht mehr lohne, ältere Süchtige zu therapieren. Was die Gesellschaft denn davon habe, wenn sie denen helfe, die sowieso am Ende ihres Lebens stehen? Tatsächlich, so Vosshagen, werde ja nur denen geholfe, die das auch wollen. Und natürlich sei eine Therapie dann eine "durchaus lebensverlängernde Maßnahme" und da die Betroffenen in der Regel kein Geld mehr verdienen würden, habe die Gesellschaft zumindest keinen "monetären Gewinn", wenn man ältere Süchtige therapiere. "Aber es ist eben für unsere Gesellschaft ein Gewinn, wenn das Potenzial dieser Menschen verfügbar ist. Wenn aktive statt sedierte oder betrunkene Senioren herumlaufen."
Seine Patientin Anna-Lisa sieht das inzwischen genauso. "Im Alter ist dann doch klar: Es ist eine tödliche Krankheit. Ein Tod auf Raten, sagt man ja, und die ist im Alter wirklich deutlich spürbar und nur revidierbar, wenn man kompetente Hilfe bekommt", sagt sie. "Und das würde ich jedem von Herzen gönnen: noch einmal wenigstens im Alter sauber und klar, geradlinig leben zu dürfen und seine Probleme über einen guten Verstand lösen zu können und sie nicht so zu vertrinken, dass klares Denken überhaupt nicht mehr möglich ist."