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Mutige Chronistin

Jan Bruck14. Oktober 2013

Sie gehört zu Weißrusslands wichtigsten Autoren – zum Abschluss der Buchmesse hat sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Niemand sonst hat den Zerfall der UdSSR so dokumentiert wie Alexijewitsch.

Swetlana Alexijewitsch, Foto: pixel
Bild: picture-alliance/dpa

Ihre Bücher sind in ihrer Heimat Weißrussland verboten. Ihr Telefon wurde abgehört, öffentliche Auftritte waren ihr untersagt. Einmal stand sie sogar wegen der angeblichen "Beschmutzung der Ehre sowjetischer Soldaten" unter Anklage und verlor ihren Job als Journalistin. Im Jahr 2000 flüchtete Swetlana Alexijewitsch ins westeuropäische Ausland, lebte unter anderem in Stockholm, Paris und Berlin. Ihre Bücher über das Leben in autoritären Gesellschaften finden international viel Anerkennung. Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am Sonntag (13.10.2013) nimmt Alexijewitsch in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen. Die Autorin wurde bei den Wettbüros auch als chancenreiche Kandidatin für den diesjährigen Literaturnobelpreis gehandelt.

Alexijewitsch hörte trotz des Exils nie auf, in ihren Büchern und Interviews den Nöten der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion eine Stimme zu verleihen und das diktatorische Regime in Minsk anzugreifen. Die Autorin selbst sagt im Gespräch mit der DW, sie empfinde den Preis als Unterstützung für alle Weißrussen, die sich in einer ähnlichen Lage befänden. Und auch ihr selbst gebe er Kraft. Da ihre Werke in Weißrussland nicht gedruckt werden, habe sie keine Möglichkeit, mit ihren Lesern zu sprechen, "die Machthaber tun so, als wäre ich nicht da".

Moralisches Gedächtnis

Swetlana Alexijewitsch gilt als eine große Chronistin des Zerfalls der Sowjetunion und als mutige Aufklärerin. Die Autorin sei mit ihrer Art der Geschichtsschreibung zum moralischen Gedächtnis für die Menschen in den ehemaligen sowjetischen Staaten geworden, begründet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Entscheidung. Swetlana Alexijewitsch habe "die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachgezeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verliehen."

Als Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschlands, das Teil der internationalen Schriftstellervereinigung PEN ("Poets, Essayists, Novelists") ist, lebte sie von 2008 bis 2010 in Berlin. "Wir freuen uns sehr, dass unsere ehemalige Stipendiatin diese wichtige Auszeichnung erhält", sagt die Generalsekretärin Regula Venske. "Es ist eine mutige und kluge Entscheidung, für eine ebenso mutige und kluge Frau."

Collagen des Tagtäglichen

In ihren Büchern hat Alexijewitsch das Leid der russischen Frauen und Kinder im Zweiten Weltkrieg dokumentiert, den versteckten Krieg in Afghanistan und die Katastrophe von Tschernobyl. "Diese Themen liegen völlig quer zu dem, was in der Sowjetunion geschrieben wurde und was man jetzt in Weißrussland schreibt", erklärt Regula Venske. "Swetlana Alexijewitsch aber hat sich getraut, Tabus öffentlich und international anzusprechen."

Nach dem Journalistik-Studium arbeitet Alexijewitsch zunächst als Korrespondentin eines Literaturmagazins. In ihren Reportagen und Essays entwickelt sie ihren ganz eigenen literarischen Stil: Sie führt zahlreiche einzelne Interviews und verdichtet diese zu emotionalen Collagen des tagtäglichen Lebens.

Diese Methode wendet sie erstmals in ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" an, das sie 1983 veröffentlichte. Darin thematisiert sie das Schicksal sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg und demontiert mit mehreren hundert Interviews den sowjetischen Heldenmythos vom "Großen Vaterländischen Krieg". Internationale Bekanntheit erringt sie 1997 durch die Veröffentlichung von "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft". Das Buch ist ein psychologisches Porträt der betroffenen Menschen und gibt erschütternde Einblicke in das Ausmaß der Katastrophe.

Rückkehr in ein schwieriges Leben

Ihr gesamtes Werk kreist um die "blutige, schreckliche" Erfahrung des Lebens in der Sowjetunion. Sie wolle die Wahrheit erzählen und habe dazu "das Wort sowohl den Opfern, als auch den Henkern erteilt. Wir sind eine Gesellschaft von Opfern, die Henker verschwinden und wir wissen nicht, was sie denken."

Im August ist ihr neues Buch "Second-Hand-Zeit" erschienen. Darin erzählen Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion über ihre unerfüllten Hoffnungen auf Freiheit nach dem Auseinanderbrechen des Staatenblocks. Für "Second-Hand-Zeit" ging Alexijewitsch 2011, nach 16-jährigem Exil, in ihr Heimatland zurück, um Material zu sammeln. "Um solche Bücher wie ich zu schreiben, muss man vor Ort sein", sagt Alexijewitsch. "Ich muss Gesprächen auf der Straße, in Cafés oder Restaurants lauschen. Meine Ohren sind auf die Straße gerichtet, sie sind mein Arbeitsinstrument." Und das, obwohl ihre Arbeit nach wie vor nicht einfach ist. Die Haltung des Lukaschenko-Regimes hat sich ihr gegenüber nicht geändert. "Swetlana Alexijewitsch beharrt auf ihren Themen, trotz schwieriger Umstände. Es ist fantastisch zu sehen, dass dieses Engagement nun mit dem Friedenspreis gewürdigt wird", resümiert Regula Venske.

Der mit 25.000 Euro dotierte Preis wird seit 1950 an Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt vergeben. 2012 ging er an den chinesischen Dichterdissidenten Liao Yiwu. Im Jahr davor bekam ihn der algerische Schriftsteller Boualem Sansal.

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