"Synode wirkt auf andere Kirchen"
23. Oktober 2015Deutsche Welle: Herr Professor Schirrmacher, die Welt dreht sich weiter. Immer mehr Katholiken leben anders, als es die Kirchenlehre vorschreibt. Sollte die katholische Kirche ihr Familienbild revidieren?
Thomas Schirrmacher: Es geht bei dieser Synode um die Frage, ob es Möglichkeiten gibt, aus Liebe und Barmherzigkeit viel intensiver auf die Realität der Menschen einzugehen als derzeit üblich. Ich würde sagen: Ja, das ist möglich und es muss möglich sein. Andernfalls müsste man alle, die nicht nach Vorschrift leben, aus der Kirche ausschließen. Und dann wäre die Kirche eben sehr klein.
Verfechter der reinen Lehre wollen möglichst keine Veränderung. Hält die Kirche das durch? Oder riskiert sie, sich selbst zu marginalisieren, indem sie sich von den Menschen entfernt?
Was die Kirche riskiert, ist vor allen Dingen Doppelmoral - dass sie so tut, als hielte sie sich an bestimmte Vorschriften und es de facto doch nicht tut. Zum Beispiel: Wiederverheiratete dürfen an der Messe nicht teilnehmen. Aber das kontrolliert natürlich keiner. Betroffene mit einem lockeren Gewissen gehen einfach weiter zur Messe. Und diejenigen mit einem strikteren Gewissen gehen nicht mehr hin, leiden aber enorm darunter. Da muss die Kirche schon erklären, wieso sie diese Menschen nicht exkommuniziert. Sie gehören zur Kirche dazu. Man will sogar, dass sie mitarbeiten. Aber sie dürfen nicht an der Messe teilnehmen.
Die Synode ringt um Antworten zu Fragen von Ehe und Familie. Kann es einheitliche Antworten geben?
Das ist schwierig. Nehmen wir das Thema Homosexualität: In Deutschland wollen mehr als 90 Prozent der Katholiken, dass es grundsätzliche Veränderungen hin zu einer Gleichstellung und Gleichbewertung gibt. In Afrika ist das genau umgekehrt: Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung wollen eigentlich noch strengere Gesetze gegen Homosexuelle. Da ist es schwer, einen Konsens zu finden. Gäbe man den Afrikanern nach, müsste man den Umgang mit Homosexualität noch erheblich verschärfen. Es geht um den Schlüssel, den der Papst erwähnt hat - um Wahrheit und Liebe, um den seelsorgerischen Umgang mit Homosexualität in der jeweiligen Situation. Weniger um die Frage: Was ist das ideale Ziel?
Wie definieren Sie Familie aus evangelischer Sicht?
Im Evangelischen ist die Spannbreite der Positionen noch viel größer als in der katholischen Kirche. Da gibt es zum einen die großen Kirchen in Europa, die verschiedene Formen des Zusammenlebens je nach sexueller Orientierung bejahen. Die sehen die klassische Ehe und Familie nur noch als Idealbild, alle anderen Formen jedoch als gleichwertig an.
Ich vertrete mit der Weltweiten Evangelischen Allianz eher die konservativen Protestanten, die sogenannten Evangelikalen. Auch dort haben wir eine ganz breite Diskussion. Dagegen ist die bei der Synode fast harmlos. Bei uns kontrolliert keiner, wer mitdiskutiert. Jeder Christ kann sich da einbringen. Das bedeutet, dass wir auch viele homosexuelle Evangelikale haben, die Bücher veröffentlichen und sich sehr lautstark einbringen.
Aber es hat schon Veränderungen gegeben. Außer vielleicht in Afrika gibt es kaum noch Evangelikale, die bei Homosexualität strafrechtliche Konsequenzen verlangen würden. Im globalen Süden haben wir noch viele, die mit den konservativen Positionen auf der Synode übereinstimmen. Umgekehrt haben wir auch einen breiten Flügel, der die ganze Problematik in die seelsorgerliche Kompetenz der einzelnen Kirchengemeinde, des einzelnen Seelsorgers und Pastors stellt.
Wenn man diese Synode hier sieht, wird klar: Die Protestanten fangen zwar an derselben konservativen Stelle an, aber der Flügel reicht noch sehr viel weiter als auf katholischer Seite.
Homosexuellen und gleichgeschlechtlichen Paaren verweigert die katholische Kirche ihren Segen. Darf sie das angesichts der Tatsache, dass in 80 Ländern Schwule kriminalisiert und verfolgt werden? Was sagen Sie als Menschenrechtsexperte?
Richtig ist: Wer rechtliche oder andere Vorbehalte gegen bestimmte Personen hat, fühlt sich schnell auch dazu berechtigt, diejenigen auch abzuwerten. In weiten Teilen der Welt wird die kirchliche Forderung, dass die Ehe zweigeschlechtlich und auf Kinder angelegt sein sollte, als Begründung dafür genommen, Menschen im Alltag zu diskriminieren - ihnen keine Wohnung, keine Jobs zu geben, sie öffentlich zu verprügeln oder ähnliches mehr. Zumindest die offizielle Kirche, inklusive des Papstes, ist schon sehr bemüht, diese unmittelbare Diskriminierung zu beenden.
Herr Schirrmacher, Sie haben viele Kontakte in den Vatikan bis hin zum Papst. Die außerordentliche Familiensynode vor einem Jahr hat gezeigt, wie tief die Gräben zwischen Reformern und Traditionalisten sind. Erwarten Sie dieses mal mehr Einigkeit?
Eigentlich nicht, im Gegenteil! Der Papst hat ja für diese Synode noch einmal nachgelegt, vor allem bei den Möglichkeiten zur Diskussion. Vergangenes Jahr wurden zum ersten Mal Positionen ausgetauscht. Dieses Mal gibt es Kleingruppen, in denen in der jeweiligen Muttersprache diskutiert wird. Das ist doppelt bedeutsam: Erstens lässt sich viel weniger kontrollieren, was diskutiert wird. Und zweitens diskutiert es sich in der Muttersprache noch mal heftiger. Die Ergebnisse dieser Kleingruppen werden erstmals systematisch zusammengeführt und öffentlich gemacht.
Das ist sehr positiv, das braucht die Kirche. Aber es führt sicher nicht dazu, dass man schneller zu einem Ergebnis kommt. Vielmehr wird es deutlich machen, wie ausdifferenziert die Diskussion ist und dass es nicht einfach zwei Lager gibt. Die Spannung zwischen dogmatischem Ideal und tatsächlicher Lebenswirklichkeit ist ja auch deswegen schwer zu überbrücken, weil die Lebenswirklichkeit in Afrika, auf Hawaii, in Deutschland, in Amerika, ja sogar innerhalb der verschiedenen europäischen Länder so unterschiedlich ist, dass eine für alle gültige Antwort schwierig wird.
Sollte die katholische Kirche wider Erwarten einen neuen Familienkurs einschlagen, werden dann auch die Protestanten davon profitieren?
Ja, natürlich. Ganz gleich, ob man Ökumene befürwortet oder nicht: Wir leben in derselben Welt. Wir haben mehr oder weniger denselben Glauben. Und so wie das, was die Protestanten machen, die Katholiken mehr beeinflusst, als ihnen manchmal lieb ist, ist das umgekehrt natürlich genauso. Neuerdings müssen sich auch protestantische Führer und Fernsehprediger, wenn sie einen aufwändigen Lebensstil zur Schau stellen, fragen lassen, warum sie das tun. Papst Franziskus würde doch auch ein kleines Auto fahren.
Nein, die Synode wird tiefgreifende Auswirkungen haben. Deswegen finde ich es auch so positiv, dass der Papst dafür gesorgt hat, dass - wenn auch in kleiner Zahl - die anderen Kirchen, auch die Protestanten, mitdiskutieren und ihre Standpunkte einbringen können.
Professor Thomas Schirrmacher ist reformierter Theologe, Ethiker, Religionswissenschaftler und Religionssoziologe. Er ist Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, eines internationalen evangelikalen Netzwerks. Derzeit gibt es 328 Millionen evangelikale Christen weltweit. Besonders stark ist die Bewegung in Asien, Afrika, Südamerika und den USA. Auf Einladung von Papst Franziskus nimmt Schirrmacher - als einer von 14 Brüderlichen Delegierten aus den anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften - an der Familiensynode im Vatikan teil. Stimmrecht haben diese Vertreter nicht.
Das Gespräch führte Stefan Dege.