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PolitikNahost

Syrien: Frauen wehren sich gegen Sextortion

Nawar Al Mir Ali
2. Januar 2021

Junge Frauen werden von ihren Partnern oder anderen Personen erpresst, die damit drohen, Nacktbilder von ihnen zu veröffentlichen - das ist auch in Syrien verbreitet. Doch die Betroffenen organisieren sich.

Syrien - Alltag in Damaskus
Tatort Internet - syrische Frauen wollen keine Opfer mehr sein (Archivbild aus einem Internetcafé in Damaskus)Bild: Oliver Berg/dpa/dpaweb/picture alliance

Nour ging es wie so vielen Mädchen in ihrem Alter. Sie war 19 Jahre alt und frisch verliebt. Es war eine Liebe, die sie schier blind machte. Sechs Monate lang lebte sie wie im Märchen. Bis zu dem Tag, an dem ihr Freund sie um Nacktfotos bat. "Zunächst habe ich mich geweigert. Doch als er dann immer und immer wieder fragte und mir versprach, mein Vertrauen keinesfalls zu missbrauchen, gab ich nach und schickte ihm ein paar Fotos", berichtet Nour. 

Doch schon kurze Zeit später verlangte er noch mehr Bilder von ihr. "Diesmal ging es nicht mehr nur um Bilder. Als ich ihm klar machte, dass ich diesmal keinesfalls nachgebe, drohte er mir damit, die Bilder an meine Familie zu senden", erinnert sich Nour. "Mir war klar: Wenn meine Familie rauskriegen würde, dass ich solche Fotos habe machen lassen, würde sie mich verstoßen."

Syrien: Strenge Sexualmoral

In Syrien herrschen strenge Moralvorstellungen. Sex vor der Ehe und ähnliches gelten öffentlich als Schande, vor allem für Frauen. Nour war völlig verzweifelt. Bis eine Freundin sie Ende 2019 auf die Organisation Gardenia aufmerksam machte. Die syrische Ärztin Zainab Alassi hat Gardenia 2017 gegründet, um sich für Frauen stark zu machen - indem sie auf wichtige Probleme öffentlich aufmerksam macht.

Die syrische Ärztin Zainab Alassi hat die Organisation Gardenia gegründet und hilft Frauen mit RechtsbeistandBild: Zeinab al-Assi

2019 rief sie die Kampagne "Es ist dein Recht" ins Leben. Deren Ziel ist es, Frauen, die Opfer von sogenannter Sextortion geworden sind, dazu zu bringen, ihr Schweigen zu brechen. Bei Sextortion geht es um eine Form der Erpressung, bei der der Täter damit droht, Nacktfotos des Opfers zu verbreiten - eine Wortschöpfung aus den Begriffen Sex und Extortion, englisch für Erpressung.

Bislang haben nach Aussage der Initiatorin 1100 syrische Frauen ihre Geschichte erzählt. Alle Frauen hatten dabei eines gemeinsam: "Angst", sagt Zainab Alassi. "Angst vor den Eltern, Angst vor der Gesellschaft. Das ist die größte Herausforderung, vor der unsere Initiative steht."

Unterstützung und Rat für Betroffene

Die Initiative will Betroffenen von Sextortion auf mehreren Ebenen helfen. Zum einen geht es um Rechtsbeistand - hier arbeitet Gardenia mit mehreren Anwälten zusammen und bietet kostenlose Rechtsberatung an. Zum anderem geht es darum, psychosoziale Folgen aufzufangen.

Die Organisation Gardenia hat die Kampagne "Es ist dein Recht" ins Leben gerufenBild: Gardenia

"In 90 Prozent der Fälle haben wir den Rechtsweg eingeschlagen. In vielen Fällen geben Verteidiger direkt nach, wenn sie erfahren, dass wir Fälle bei der Polizei aktenkundig gemacht haben", so Alassi. Das syrische Strafrecht sieht für Erpressung bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe und eine Geldbuße vor. Die Strafe kann sich verdoppeln, wenn die Nötigung online stattgefunden hat. Dafür sorgen spezielle Gesetze zur Cyberkriminalität.

Nachdem sich Nour bei der Initiative Rat geholt hatte, drohte sie ihrem Freund, vor Gericht zu gehen, falls er seine Drohung wahr machen und die Bilder verbreiten würde. "Sobald ihm klar wurde, dass ich es ernst meine, ließ er seine Drohungen fallen und verschwand aus meinem Leben", freut sich Nour.

Seelische Verletzungen bleiben

Die emotionale Belastung aber hinterlässt bei vielen Betroffenen schwere seelische Verletzungen, die nicht einfach so verschwinden. Deshalb bietet Gardenia psychologische Unterstützung an. Ein ganzes Netzwerk von Experten hilft den Frauen dabei, in ein normales Leben zurückzufinden.

Gerichtsgebäude in Damaskus: Hier werden Fälle von Kriminalität im Internet verhandeltBild: Nawar Al Mir Ali

Und Gardenia ist nicht die einzige nichtstaatliche Organisation in Damaskus, die Betroffenen von Sextortion aus ganz Syrien helfen will. Auch die Juristin Bara Altrn bietet Frauen, die online sexuell bedroht wurden, Rechtsberatung an. "Das fing alles mit einem Posting vor rund zwei Jahren an. In dem ging es um Rechtsvorschriften, die Frauen vor sexueller Nötigung im Netz schützen sollen. Ich hatte damals gerade mehrere solcher Fälle in meinem Umfeld erlebt", berichtet sie. Danach kamen mehrere Frauen auf sie zu und baten um Hilfe. So fing Bara Altrn an, kostenlose Rechtsberatung für Sextortion-Opfer anzubieten.

Wie viele Frauen sie schon beraten hat, hat sie nicht gezählt. Jedenfalls seien es sehr viele, sagt sie. "Dreimal habe ich selbst im Namen von Geschädigten geklagt", sagt sie. "Und dann gibt es noch andere Bekannte, von denen ich weiß, dass sie nach meiner Beratung den Rechtsweg gegangen sind. Dort war ich dann allerdings nicht als Anwältin direkt beteiligt." Interessant sei, dass Beschuldigte, sobald ein Fall zur Anklage gebracht werde, meistens nachgäben und eine außergerichtliche Einigung anstrebten.

Auch Altrn beobachtet, dass es meistens die Furcht vor den eigenen Eltern sei, die junge Frauen dazu bewegt, sich Hilfe zu holen. Sie erinnert sich an einen Fall in der Provinz Homs, als sich eine Frau das Leben nahm, nachdem ihr Partner gedroht hatte, Nacktbilder von ihr zu veröffentlichen. "Leider ist es in der syrischen Gesellschaft noch immer so, dass in solchen Fällen die Frau als die Schuldige angesehen wird. Da heißt es dann, sie hätte ja zugestimmt, dass die Fotos gemacht werden, also verdiene sie auch, was danach passiert."

Sie war selbst Betroffene und hilft jetzt anderen: Sham AlsahharBild: Sham Al-Sahhar

Coronakrise verschärft die Situation

Sexuelle Übergriffe und Sextortion sind in der syrischen Gesellschaft - ebenso wie in den meisten anderen - nicht neu. Aber das Aufkommen sozialer Medien und der fast zehn Jahre andauernde Krieg haben ein Umfeld geschaffen, dass es Tätern leichter macht, Sex, Geld oder beides zu erpressen.

Auch die Coronakrise tut ihr Übriges. Die Menschen verbringen mehr Zeit zuhause, mehr Zeit online. Dadurch steigt die Zahl von Fällen sexualisierter Gewalt in sozialen Medien.

Die 20-jährige Sham Alsahhar wurde mehrfach Opfer sexueller Übergriffe. Das hat sie zusammen mit drei Freundinnen dazu gebracht, im vergangenen September die Initiative "Nein zu elektronischer sexueller Belästigung" zu gründen. Das Hauptziel: Facebook-Accounts sperren zu lassen, die für Übergriffe genutzt werden. Das schafft die Gruppe, indem sie andere User dazu aufruft, solche Accounts zu melden. "Wir haben viele Fälle erlebt, in denen Facebook-Konten junger Frauen gehackt oder private Bilder der Frauen gestohlen und woanders veröffentlicht wurden", berichtet Alsahhar. Klar sei aber auch, dass es lange dauere, solche Fälle vor Gericht zu bringen. "Bis hier endlich etwas passiert, zirkulieren die Bilder schon längst im Netz und der Schaden wird immer größer."

Bislang ist es der Initiative, die 2400 Mitglieder hat, gelungen, mehrere Dutzend Accounts sperren zu lassen. "Wir wollen unbedingt auch junge Männer dazu bewegen mitzumachen", sagt Alsahhar. "Unsere Gruppe ist offen für alle. Weibliche Mitglieder sind dazu aufgerufen, männliche Freunde oder Familienmitglieder einzuladen".

Anmerkungen der Redaktion:
- Die Namen aller Opfer in diesem Artikel wurden geändert, um deren Identität zu schützen.
- Gardenia und alle anderen genannten Initiativen sind unabhängig von der syrischen Regierung. Die Regierung unterstützt diese Initiativen nicht, bekämpft sie aber auch nicht, da sie keine politischen Gruppen sind. 
- Dieser Artikel entstand in Kooperation mit dem Mediennetzwerk Egab.

Aus dem Englischen adaptiert von Friedel Taube.

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