Ambivalenter Kurs: Syriens Regierung und die Minderheiten
15. Juli 2025
Die Waffenruhe in Suweida sei wiederhergestellt. So teilte es Syriens Verteidigungsminister Marhaf Abu Kasra am Dienstag dieser Woche mit. Doch die Darstellungen zur aktuellen Lage gehen auseinander, unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Zuvor waren Truppen des Ministeriums in die rund 100 Kilometer südlich von Damaskus gelegene Stadt eingerückt, um die am Sonntag ausgebrochene Gewalt zwischen Drusen und sunnitischen Beduinen zu beenden. Insgesamt wurden seit Sonntag nach Angaben der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mehr als 200 Menschen getötet und viele weitere verletzt.
Der SOHR zufolge war ein drusischer Jugendlicher vor einigen Tagen auf der Schnellstraße zwischen Damaskus und Suwaida von Angehörigen sunnitischer Beduinen geschlagen und ausgeraubt worden. Als Reaktion darauf hätten drusische Kämpfer ihrerseits Beduinen entführt - woraufhin die Gewalt eskaliert sei.
Der auf Syrien und den Irak spezialisierte Journalist Aymenn Jawad al-Tamimi berichtet, die Drusen hätten sich den syrischen Regierungstruppen zunächst widersetzt, ihnen dann aber doch ihre Waffen übergeben. Am Dienstagnachmittag berichtete das SOHR dann, Kräfte des Verteidigungs- und des Innenministeriums und mit ihnen verbündete Kämpfer hätten am Dienstag in der im Süden gelegenen Provinzhauptstadt Suwaida 19 Zivilisten der religiösen Minderheit der Drusen exekutiert.
In den vergangenen Tagen hatte auch die israelische Armee die syrischen Regierungstruppen mehrfach ins Visier genommen. Israel wolle verhindern, dass Syriens Regierung der drusischen Minderheit Leid zufüge, hieß es in einer gemeinsamen Stellungnahme von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz.
Zwischen Interessenskonflikten und Kriminalität
Der jüngste Zusammenstoß in Suweida gehe offenbar in erster Linie auf Interessenskonflikte verschiedener Bevölkerungsgruppen zurück, sagt Bente Scheller, Syrien-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung. "In Syrien sehen viele Gruppen ihre Anliegen oder Rechte nicht hinreichend berücksichtigt. Im Verhältnis zu anderen Gruppen fühlen sie sich übervorteilt, was dann zu Gewalt führt." So gehe es in Suweida vor allem um Selbstbehauptungs- und Verteilungskonflikte - aber auch um Gewaltkriminalität, die mit dem einst hier florierenden Drogenschmuggel zu tun habe.
Oft spielen aber auch religiöse Motive eine Rolle. Erst im Mai war es im südöstlich von Damaskus gelegenen Dscharamana zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Drusen und radikalen Islamisten gekommen. Letztere waren zumindest in Teilen der Regierung verbunden. Diese extremistischen Kräfte wollten die nicht zum Islam gehörenden Drusen in Syrien offenbar nicht dulden.
Syrische Sicherheitskräfte: extremistisch unterwandert?
Dieses Motiv rückt den Konflikt in die Nähe der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Alawiten und dschihadistischen Kämpfern im März dieses Jahres, an deren Seite offenbar auch Mitglieder der Regierungstruppen standen. Dabei waren über 1300 Menschen getötet worden. Aus den Reihen der Alawiten stammt auch die Assad-Familie. Viele Syrer sehen in den Alawiten Anhänger und Unterstützer des gestürzten Regimes.
Entzündet hatte sich der Konflikt an Attacken von militanten Assad-Anhängern auf Regierungstruppen. Die Zusammenstöße weiteten sich aus, es kam zu Gräueltaten gegen unbeteiligte alawitische Zivilisten. Die Nachrichtenagentur Reuters zeichnete in einer Ende Juni veröffentlichten Recherche eine Befehlskette nach, die offenbar bis ins Verteidigungsministerium in Damaskus reichte. "Die regierungsnahen Angreifer plünderten und verwüsteten häufig die Häuser der Opfer oder brannten sie nieder", heißt es in der Recherche.
Zwar hege nicht das gesamte Kabinett in Damaskus Sympathien für die Dschihadisten - "dafür ist es schlicht zu pluralistisch", sagt André Bank, Syrien-Experte des Hamburger GIGA-Institutes für Nahost-Studien, im DW-Interview. Man müsse "sich aber fragen, wie es weitergehen soll, wenn die Regierung die lokalen Gewaltakteure - und auch Teile ihrer eigenen Truppen - nicht unter Kontrolle hat". Und was es für das Land bedeute, wenn Teile der Regierung die Gewalt billigten oder gar dazu aufriefen. "In diesem Fall dürfte es weiterhin zu massiven interkonfessionellen Zusammenstößen kommen."
Al-Scharaa unter Druck
Offen ist, ob der derzeitige politische Führer des Landes, Ahmed al-Scharaa, die massive Gewalt unter seinen Landsleuten künftig wird verhindern können. Nachdem US-Präsident Donald Trump Anfang Juli die Sanktionen seines Landes gegen Syrien aufgehoben hatte, dürfte Scharaa ein noch größeres Interesse daran haben, ein gutes Verhältnis zu den westlichen Staaten zu entwickeln. Die wiederum knüpfen hohe Erwartungen an den Schutz von Minderheiten im Land.
Dass al-Scharaa diese kaum zu erfüllen vermag, zeigte Ende Juni ein Selbstmordanschlag gegen Teilnehmer eines christlichen Gottesdienstes in Damaskus. Dabei sollen 25 Menschen getötet worden sein. Seitdem fordern syrische Christen von ihrer Regierung stärkere Anstrengungen zu ihrem Schutz. Ansonsten, erklärten einige von ihnen im Gespräch mit der DW, dächten sie daran, ihr Land zu verlassen.
Vorwurf: mangelnder Aufklärungswille
Das syrische Innenministerium macht die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) für den Anschlag verantwortlich. Bewiesen ist jedoch nichts, sagt Bente Scheller. "Es fielen in der öffentlichen Debatte auch andere Namen", etwa der einer bewaffneten Gruppe, in der auch ehemalige Mitglieder von Hajat Tahrir al-Scham (HTS) kämpfen. Al-Scharaa war vor dem Sturz Assads Anführer der HTS. "Für ihn wäre es natürlich bequemer, die Verantwortung für den Anschlag auf den IS abzuwälzen", sagt Scheller.
Auch das Verhalten der syrischen Regierung nach den Gräueltaten an den Alawiten macht viele Syrer misstrauisch. Die Regierung hatte zwar die Bildung einer Untersuchungskommission versprochen - doch hat diese bis heute keine Ergebnisse vorgelegt. "Viele haben den Eindruck, der Regierung fehle es an Ernsthaftigkeit oder sogar am Aufklärungswillen", konstatiert Bente Scheller.
Eine unterfinanzierte Regierung
Zugleich, sagen Scheller und Bank, fehle es Syrien schlicht an Geld. Das Kabinett müsse sehr viele Aufgaben leisten, von der Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes über den Wiederaufbau des Staatsapparates bis hin zur Errichtung einer föderalistischen Bürokratie.
Das überfordere die Regierung, die darüber hinaus noch die Belange einer weiteren Minderheit im Blick behalten muss: die der Kurden im Norden des Landes, die zwar im syrischen Staat verbleiben wollen, aber gleichzeitig eine weitgehende Autonomie fordern. Und die sich gleichzeitig Kämpfe mit der türkischen Armee liefert, die seit Jahren im Norden Syriens präsent ist. Auch mit diesem Konfliktherd muss sich die Regierung al-Scharaa wohl noch länger auseinandersetzen.
Dieser Artikel wurde aktualisiert.