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Syrien: Parlamentswahlen als Aufbruchssignal?

1. August 2025

Im September soll in Syrien ein neues Parlament gewählt werden. Angesichts der Gewaltexzesse in Siedlungsgebieten von Minderheiten dürfte der Urnengang für Regierung und Bürger zur schwierigen Herausforderung werden.

Der syrische de-facto-Präsident Ahmed al-Scharaa, hier bei einer Rede im März 2025 in Damaskus
Ringt um nationales und internationales Vertrauen: der syrische Übergangspräsident Ahmed al-ScharaaBild: Syrian Presidency/REUTERS

Mitte September sollen die Syrer ihr neues Parlament wählen - zum ersten Mal nach dem Sturz des autoritären Assad-Regimes, das die Politik des Landes über ein halbes Jahrhundert lang geprägt hatte. 

Nach derzeitigem Stand soll das neue Parlament 210 Abgeordnete haben. Das sind 60 mehr als das provisorische, das im März dieses Jahres gebildet worden war. Das neue Parlament soll für eine auf drei Jahre angesetzte Übergangsphase fungieren. Am Ende dieser Zeit soll eine neue Verfassung verabschiedet werden. Ausländische Wahlbeobachter sind zugelassen.

Gebiete, die derzeit nicht von der Regierung kontrolliert werden, wie etwa die kurdisch kontrollierten Regionen und die zuletzt von gewaltsamen Unruhen erschütterte, überwiegend von Drusen bewohnte Provinz Suwaida, sollen der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA zufolge weiterhin Sitze auf der Grundlage ihrer Bevölkerungszahl zugesprochen bekommen. 

Große Herausforderungen

Dass es überhaupt zu Wahlen komme, sei ein geradezu historischer Moment, meint die an der Universität Tübingen forschende Politologin und Syrien-Expertin Sarah Bassisseh: "Das Land befindet sich in einer schwierigen Übergangsphase. Aber der Umstand, dass das Land jetzt ein neues Wahlsystem hat, macht vielen Syrern große Hoffnung - auch wenn sie sich der mit den Wahlen verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen, insbesondere des Vertrauensverlustes der kleineren konfessionellen und ethnischen Gruppen in die Regierung bewusst sind." Umso mehr müsse der politische Führer des Landes, Ahmed al-Scharaa, diese Gruppen von der Transparenz und Legitimität der Wahlen überzeugen.

Ähnlich sieht es die Nahost-Expertin Birgit Schäbler, Historikerin und Professorin an der Universität Erfurt und bis 2022 Direktorin des Orient Instituts in Beirut. Zur Charakterisierung der anstehenden Wahlen verweist sie auf die Gepflogenheiten unter dem gestürzten Assad-Regime: Unter dessen Herrschaft gingen zwei Drittel der Sitze automatisch an die dominierende Baath-Partei und deren Verbündete. "So konnten diese nie verlieren. Entsprechend begrenzt war das Parlament. Es war in erster Linie ein Debattierclub, der die Vorgaben des Präsidenten abgenickt hat."

Das soll sich nun ändern: 140 Abgeordnete sollen in einem demokratischen Prozess von regionalen Wahlgremien bestimmt werden, auch wenn Details noch unklar erscheinen. Allerdings: Die restlichen 70 Abgeordneten soll Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa ernennen. Insbesondere der letzte Punkt, der große Einfluss des Präsidenten auf die Wahlen, sorgt in Syrien für Kritik - zumal nicht alle Bürger und Bevölkerungsgruppen ihm die zwischenzeitlich erfolgte Distanzierung von seiner eigenen früheren militant-islamistischen Ausrichtung glauben.

Syrische Sicherheitskräfte blockieren Beduinen-Kämpfer, die sich für Auseinandersetzungen mit drusischen Kräften gerüstet haben: Szene aus der Ortschaft Busra al-Harir im südlichen SyrienBild: Omar Sanadiki/AP/picture alliance

Sorge um Vielfalt und Integration

Bereits in seiner Übergangsregierung habe sich Ahmed al-Scharaa vor allem mit Personen umgeben, die ihm nahe stünden, bemerkt Expertin Sarah Bassisseh. "Sie setzt sich aus engen Mitarbeitern zusammen." Zwar habe man durch die Ernennung einer Christin, Hind Kabawat, als Sozialministerin Vielfalt und Inklusivität demonstrieren wollen. "Aber viele Syrer sind skeptisch, dass dies eine ernstgemeinte Geste ist - und dass es nicht bloß davon ablenken soll, dass die Regierung insgesamt stark von Vertrauten al-Scharaas dominiert wird." Auch deshalb sei "offen, wie vielfältig und integrativ das Parlament am Ende sein wird."

Skepsis herrscht außerdem angesichts des Umstandes, dass auch die verbleibenden 140 Abgeordneten nicht direkt gewählt, sondern von regionalen Wahlgremien bestimmt werden sollen. Es sei allerdings fraglich, ob ein direkter Wahlgang angesichts der durch den Krieg massiv geschwächten Infrastruktur und Logistik überhaupt möglich sei, sagt Birgit Schäbler. Sie verweist darauf, dass al-Scharaa trotz der jüngsten Gewalt in der Drusen-Region am Wahltermin festhält. "Er hätte sie durchaus auch verschieben können. Dass er das nicht tut, lässt sich durchaus als positives Zeichen werten."

Zudem stehe al-Scharaa national wie international unter Druck, so die Expertin. "Die Regierung hat durch die Gewaltfälle der letzten Zeit erheblich an Vertrauen verloren. Das muss al-Scharaa wiedergewinnen." Dabei dürfte die Frage, wen er für die 70 von ihm selbst zu besetzenden Parlamentssitze auswähle, eine "erhebliche Rolle" spielen, meint Schäbler. "Natürlich wollen sich letzten Endes sämtliche Bevölkerungsgruppen im Parlament repräsentiert sehen."

Skepsis unter den Minderheiten

Offen ist nach der Gewalt der vergangenen Wochen zudem, ob und falls ja, in welchem Ausmaß sich konfessionelle und ethnische Minderheiten an der Wahl beteiligen werden. Deren Mitglieder dürften zumindest vorsichtig sein, vermutet Sarah Bassisseh. Einige Gruppen würden von der Politik und den Institutionen des Staates faktisch ausgeschlossen, kritisiert sie, die jüngsten Gewaltexzesse in den drusisch und alawitisch geprägten Regionen hätten weiteren Vertrauensverlust bewirkt. "Dies könnte zu strukturellen Einschränkungen für eine echte Teilhabe dieser Gruppen führen, wie zum Beispiel fehlende Anreize, mangelnde Sicherheit und mangelnde Zugänglichkeit, um nur einige zu nennen."

Bassisseh bezweifelt deshalb, dass es zu einer fairen Teilhabe der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen an den Wahlen kommen werde. Mangelndes Vertrauen in die Regierung und auch mangelnde Glaubwürdigkeit des gesamten Wahlprozesses stünden dem entgegen und könnten das Engagement von Minderheiten im Wahlprozess verhindern. 

Etwas optimistischer ist Birgit Schäbler. Auch sie sieht zwar das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Minderheiten beschädigt. Aber sie verweist auf den Umstand, dass auch Teile der Minderheiten, etwa der Drusen, ihrerseits politisch untereinander zerstritten sind.

So steht etwa der Drusenführer Hikmat al-Hidschri für einen eher wenig kompromissbereiten Dialog gegenüber der syrischen Regierung. Stattdessen pflegt er enge Kontakte zu Israel, dessen Streitkräfte den Drusen in ihrer Auseinandersetzung mit sunnitischen Beduinen und Teilen der Regierungstruppen militärisch beigestanden hatten.

"Dass sich die Fraktion um al-Hidschri durchsetzen wird, halte ich aber für unwahrscheinlich", sagt Schäbler. Mit einem Wahlboykott der Drusen rechne sie daher nicht.  "Nicht nur unter ihnen, sondern auch unter den anderen Minderheiten werden sich die meisten Menschen in das neue Syrien einbringen wollen - sofern die Regierung ihre regionalen und lokalen Belange respektiert."

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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