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Politik

Waffenstillstand - Tagebuch aus Idlib

Esther Felden
17. März 2020

Noch hält die Waffenruhe, die Russland und die Türkei für Idlib ausgehandelt haben. Eine junge Syrerin schildert der DW, wie sich ihr Leben verändert hat.

Die junge Syrerin Mona am Tisch sitzendim Büro der Organisation Start Point (Name darf nicht genannt werden)
Bild: Privat

Ein rotes, gebrochenes Herz: ein Emoji direkt aus dem Krieg. Mona benutzt es oft, wenn sie über ihr Leben in Idlib schreibt. Diese Nachricht schickt sie der DW am 4. März.

“Der Beschuss ist stärker geworden, die Geräusche sind sehr laut. Die Menschen haben große Angst. Ich traue mich im Moment in Idlib nicht mehr auf die Straße.“

Es ist ein Leben zwischen Todesangst und Hoffnung. Zwischen Luftangriffen und Atempausen, weil die Waffen schweigen. Im aktuellen Fall seit der Nacht vom 5. auf den 6. März.

Atempause für Idlib

03:01

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Es ist nicht der erste Waffenstillstand für Idlib. Er ersetzt keinen Friedensvertrag. Aber die Einigung verschafft Menschen wie Mona eine Atempause. Eine Befreiung von der permanenten Umklammerung durch die Lebensgefahr.

Es geschieht eher unbemerkt, denn wegen der Corona-Pandemie ist Idlib aus den Schlagzeilen verschwunden. Das war vor drei Wochen noch ganz anders.

Es ist der 24. Februar, abends.

Über Whatsapp kontaktieren wir Mona.

 "Hallo Mona, wie geht es dir? Wie war der Tag?"

Die Antwort kommt anderthalb Stunden später.

"Sehr schlecht."

Dann das gebrochene Herz.

"Heftiger Beschuss aus der Luft, ganz in unserer Nähe, geschätzt zwei Kilometer von hier."

"Kannst du die Luftangriffe fühlen?"

"Natürlich. Wenn es nah an meinem Zuhause ist, vibriert alles. Wie bei einem Erdbeben. Aber das schlimmste sind die Geräusche. Beängstigend."

Wenn die Bomben plötzlich fallen, bleibe keine Zeit, um Schutz zu suchen, sagt Mona. Aber wirklich sichere Orte gebe es sowieso nicht. Zu Hause fühlt sie sich in ihrem Wohnzimmer am wohlsten.

"Ich weiß, es ist naiv, aber das Wohnzimmer ist rechts und links von anderen Zimmern umgeben. Ich denke immer: Wenn mein Haus bombardiert wird, bin ich dort am sichersten."

Seit über einem Monat begleiten wir Mona aus der Ferne. Über den ganzen Tag verteilt schickt sie Whatsapp-Nachrichten, Audio-Botschaften oder Videos aus ihrem Leben in der nordwestsyrischen Millionenstadt Idlib.

Ein Alltag, eingekeilt zwischen den Truppen der syrischen Armee von Machthaber Baschar al Assad, die sich mit russischer und iranischer Unterstützung von Süden her nähern. Und türkischen Einheiten im Norden, die auf Seiten verschiedener islamistischer Rebellengruppen kämpfen, unter deren Kontrolle Idlib derzeit steht.

Erbitterte Kämpfe um Idlib

Der Großraum Idlib ist die letzte umkämpfte Region nach neun Jahren Syrien-Krieg.

Seit Ende 2019 hat sich die Situation der Zivilbevölkerung auf dem letzten großen Schlachtfeld Syriens zugespitzt. Knapp eine Million Menschen sind innerhalb der vergangenen drei Monte aus Idlib geflohen, schreibt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen - UNHCR - vor wenigen Tagen bei Twitter. Die meisten harren verzweifelt unter katastrophalen Zuständen in Lagern an der geschlossenen Grenze zur Türkei aus.

Das wollte Mona nicht. Die 24jährige und ihr Mann entschieden sich ganz bewusst, zu bleiben. Sie habe einfach keine Energie mehr, noch ein weiteres Mal zu fliehen, sagt Mona.

Ihre Kindheit verbrachte sie mit drei Brüdern und zwei Schwestern in Tabqa, knapp 60 Kilometer südwestlich von Rakka. Als der sogenannte Islamische Staat die Stadt  im Jahr 2014 eingenommen hatte, zog die Familie in die Provinz Idlib, zunächst in die Stadt Kafranbel. Dort lernte Mona zwei Jahre später ihren heutigen Ehemann kennen.

Doch statt sich in Ruhe und Sicherheit ein gemeinsames Leben aufzubauen, war das junge Paar bald permanent auf der Flucht. Hin und her getrieben vom Kriegsgeschehen. Ende April 2019 begann dann die Militäroffensive der syrischen Armee und ihrer Verbündeten gegen die islamistischen Rebellen, die Idlib kontrollieren. Allen voran die Mitglieder der Al-Kaida-nahen Terrormiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS).  Das junge Paar entschloss sich, nach Idlib City auszuweichen. Seit Oktober leben Mona und ihr Mann in der Provinzhauptstadt. 

Mit dem türkischen Einmarsch im Oktober 2019 verschlechtert sich für die Menschen in Idlib die Lage weiterBild: picture-alliance/Zuma Press/Turkish Defense Ministry

Dieser letzte Ortswechsel fällt zeitlich zusammen mit dem Beginn der sogenannten "Operation Friedensquelle": Am 9. Oktober 2019 startete die Türkei ihre großangelegte Militäroffensive gegen die Kurdengebiete in Nordsyrien, zunächst mit Luft- und Artillerieangriffen, dann mit dem Einmarsch von Bodentruppen. Der Krieg um Syrien eskaliert, die Menschen in Idlib werden endgültig zu Eingeschlossenen.

Angst und Verzweiflung als tägliche Begleiter

Am Morgen des 25. Februar schreibt Mona, dass es in der Nacht heftige Luftangriffe gegeben habe.

Dann sendet sie ein Foto. Darauf zu sehen ist ein kleiner Junge. Er liegt zusammengekauert auf dem Boden, hält sich die Hände schützend über den Kopf. Ihr Neffe, sagt Mona, der Sohn ihrer Schwester, drei Jahre alt. Die Schwester lebt mit ihrer Familie nur eine Viertelstunde Fußweg von Mona entfernt, die beiden sehen sich regelmäßig.

"Er hat Angst. Das bricht mir das Herz. Ich kann nicht mehr denken. Das Bild meines Neffen macht mich so traurig."

Dann zwei Emojis. Zwei gebrochene Herzen.

26. Februar, morgens.

"Alles ist einfach nur schlecht. Die Lage ist schlimm. Keine Sorge, mir geht es gut. Aber der Beschuss hört nicht auf."

Wieder ein Emoji. Dieses Mal ein Smiley. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Internationale Medien melden später, dass an diesem Tag bei syrischen und russischen Luftangriffen auf Idlib und Umgebung insgesamt 21 Menschen getötet wurden. Unter den getroffenen Zielen sind mehrere Schulen und Kindergärten.

"Wenn ich Körper von toten Kindern sehe, weiß ich gar nicht mehr, was ich fühle. Ich denke, es ist unmöglich, sich daran zu gewöhnen."

Bevor der Krieg vor neun Jahren begann habe sie ein gutes Leben geführt, berichtet Mona. "Ich war so glücklich. Meine Familie war relativ wohlhabend, mein Vater betrieb mehrere Bekleidungsgeschäfte, wir hatten zwei Autos. Ich war ein verwöhntes, entspanntes Mädchen."

Heute kann jeder Tag der letzte sein. Allein der Krieg bestimmt das Leben. Assads Krieg. Putins Krieg. Erdogans Krieg. Monas Krieg.

Waffenstillstand - na und?

Nachdem bei einem Luftangriff auf türkische Stellungen am 27. Februar mindestens 33 Soldaten getötet werden, startet Ankara massive Vergeltungsschläge und ruft die NATO um Beistand an. International wächst die Sorge vor einem Krieg zwischen der Türkei auf der einen und Syrien und seinem Verbündeten Russland auf der anderen Seite.

In den Tagen vor dem Waffenstillstand gab es immer wieder Luftangriffe in der Provinz Idlib - so wie hier auf die Stadt SaraqibBild: Reuters/U. Bektas

Am 2. März schickt Mona eine Audiobotschaft. Sie spricht relativ ruhig. 

Idlib sei gerade wieder aus der Luft bombardiert worden.

"Die Geräusche waren ohrenbetäubend. Ich dachte, jetzt müsste ich sterben. Ich wollte, dass es schnell vorbei ist. Es dauerte vielleicht eine Minute, aber es hat sich angefühlt wie ein Jahr."

Die oppositionelle Organisation Weißhelme, die sich selber Syrischer Zivilschutz nennnt, twittert am Tag darauf, dass bei fast 60 Luft- und mehr als 200 Raketenangriffen auf verschiedene Ziele in der Provinz zehn Zivilisten ums Leben gekommen seien.

Am 5. März treffen sich in Moskau der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan. Sechs Stunden beraten sie, dann wird verkündet, dass sich beide Seiten auf eine neue Waffenruhe für Idlib geeinigt haben.

Mona glaubt nicht daran.

Sie ist überzeugt, dass die Waffenruhe auch dieses Mal nicht halten wird. So wie 2018. Auch damals hatten Putin und Erdogan einen Kompromiss geschlossen. Dieser sah ein Ende der syrischen und russischen Angriffe vor. Die Türkei auf der anderen Seite sagte zu, die al-Kaida-nahe Miliz HTS zu entwaffnen, die Idlib kontrolliert. Beide Seiten hielten sich nicht an ihre Vereinbarungen.

"Das ganze Szenario wiederholt sich und ist einfach nur eine Farce, eine Art Schauspiel."

"Kannst du erklären, wie du das meinst?"

"Es tut mir leid, aber ich kann das jetzt nicht. Ich bin so traurig, es geht mir schlecht."

Ein Emoji mit herunterhängenden Mundwinkeln.

7. März, morgens.

"Im Moment fliegen Kampfflugzeuge. Aber es gab keine Angriffe. Wir warten."

"Alles gut in Idlib City"

Zwei Tage später. Es ist ruhig geblieben, beide Seiten haben sich bis jetzt an die Waffenruhe gehalten.

Das Leben ist langsam wieder auf die Straßen zurückgekehrt in den vergangenen zwei Wochen - dieses Bild vom Einkaufen mit Freundinnen schickte Mona am 9. MärzBild: Privat

Mona klingt auf einmal ganz anders. Sie schickt Videos, auf denen sie mit Freundinnen in der Stadt unterwegs ist, die jungen Frauen schlendern durch Geschäfte.

"Alles gut in Idlib City. Die Leute leben zum ersten Mal wieder auf. Auch ich."

Die Video-Clips zeigen eine wieder zum Leben erwachende Stadt:  Viele Menschen sind auf der Straße. Überall werden Waren angeboten, die Auslagen sind gut gefüllt.  Man sieht vollverschleierte Frauen durchs Bild laufen – aber auch immer wieder bunte Kopftücher. Die Farben kehren zurück nach Idlib.

"Viele Frauen tragen noch immer Abaya und Vollverschleierung, weil die bewaffneten Rebellengruppen das ja eingeführt hatten. Aber ich habe den Eindruck, dass das jetzt aufgrund des Krieges niemanden mehr so richtig interessiert. Wir können problemlos farbige Kleidung und Hijab tragen."

Ein ganzes Herz

Dieser Waffenstillstand habe einen spürbaren psychologischen Effekt auf sie, schreibt Mona.

"Als ich die Menschen auf der Straße und den Märkten gesehen habe, habe ich meine Meinung geändert. Ich habe mich einfach gut und positiv gestimmt gefühlt."

Dennoch, so berichtet Mona, ganz aufgehört hat der Krieg in ihrer Nähe nicht. Luftangriffe habe es zwar keine mehr gegeben. Aber am Boden würde nach wie vor gekämpft. Entsprechende Meldungen über Verstöße gegen die Waffenruhe veröffentlicht auch die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Sie spricht von einer "angespannten Ruhe" in der Region.

"Was ich dir noch sagen möchte: Wir erinnern uns hier nicht an jede einzelne Rakete. Wir erinnern uns nur dann, wenn es ein Massaker gab."

10. März, morgens. Mona ist regelrecht aufgeblüht.

"Das Wetter ist wunderschön, die Sonne scheint. Die Straßen sind voller Menschen. Glückliche Menschen. Sie sind zuversichtlich, sie gehen aus dem Haus. Und die Bombardements haben aufgehört."

Aufgrund der Proteste gegen die erste türkisch-russische Patrouille fiel gleich die erste Fahrt am Sonntag verkürzt ausBild: AFP/A. Watad

Natürlich ist nicht auf einmal alles gut. Natürlich ist Idlib vom Krieg gezeichnet. Natürlich sind die hunderttausenden Flüchtlinge in der Region lebende Zeugnisse des seit neun Jahren andauernden Konflikts. Und wie fragil die Situation ist, zeigt sich bei der ersten gemeinsamen russisch-türkischen Patrouille in Idlib, entlang eines Sicherheitskorridors auf der Schnellstraße M4. Anwohner zünden Autoreifen an und blockieren die Straße, sprechen von "russischen Besatzern".

Aber im Moment möchte Mona nur das Gute sehen.

Die Emojis unter ihren Nachrichten sehen in den zwei Wochen seit dem Waffenstillstand anders aus.

Mal schickt sie ein lachendes Smiley. Oder eine Rose. Und auch mal ein Herz. Ein ganzes.

 

 

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