Syrien: Straffreiheit für mutmaßliche Kriegsverbrecher?
2. Juli 2025
Drei Jahre ist es her, da machte ein grausames Video aus Syrien weltweite Schlagzeilen: Ein rund sechsminütiger Filmausschnitt, geleakt von einem ehemaligen Milizionär des gestürzten Assad-Regimes, zeigte, wie syrische Sicherheitskräfte mindestens 41 Männer brutal ermordeten. Mit verbundenen Augen wurden die Opfer in einen Graben gelockt oder gestoßen. Dort stürzten sie auf die Leichen bereits zuvor Getöteter. Dann wurden sie selbst erschossen.
Die bereits 2013 gefilmten Morde wurden in dem Damaszener Vorort Tadamon verübt. Einheimische vermuten, dass dort auf die gleiche Weise viele weitere Personen umgebracht wurden. Tausende Syrer gelten weiterhin als vermisst.
Vergangenen Monat geriet das Massaker von Tadamon erneut in die Nachrichten. Das staatliche syrische Komitee für Zivilen Frieden - von den neuen Machthabern gegründet, um gesellschaftliche Spaltungen nach der Gewalt gegen Minderheiten im März zu lindern - hatte Dutzende ehemaliger Soldaten des Assad-Regimes freigelassen. Unter ihnen befand sich auch ein Mann namens Fadi Saqr, der zuvor eine Assad-treue paramilitärische Gruppe namens "Nationale Verteidigungskräfte" in Tadamon angeführt hatte. Diese gelten als mutmaßlich Verantwortliche für das in dem Video gezeigte Massaker.
Versöhnung statt Gerechtigkeit?
Syrer, die auf Gerechtigkeit gehofft hatten, waren über die Freilassung von Saqr und anderen empört. Saqr selbst sagte der New York Times, er sei erst nach dem Tadamon-Massaker zum Anführer der paramilitärischen Gruppe ernannt worden. Und der Leiter des Komitees für Zivilen Frieden erklärte lokalen Medien gegenüber, die Entscheidung zur Freilassung von Saqr und anderen sei im Interesse von Frieden und Versöhnung getroffen worden.
"Eine angemessene Übergangsjustiz in Syrien umzusetzen, dürfte ohnehin lange Zeit in Anspruch nehmen", sagt Alaa Bitar. Der Lehrer aus Idlib hat seinen Bruder in den Gefängnissen des Assad-Regimes verloren. Dass aber weithin bekannte Personen, die im Dienst des im vergangenen Dezember gestürzten Regimes standen, ohne jegliche Aufklärung freigelassen würden, dürfte die Angehörigen der Opfer entsetzen und alle anderen erzürnen, so Bitar zur DW.
Die Kontroverse wirft weitere Fragen über den Prozess der Übergangsjustiz auf, zu dem sich die neue syrische Regierung verpflichtet hat. Im Mai erließ der Chef der syrischen Übergangsregierung, Ahmed al-Scharaa, zwei Präsidialdekrete, auf deren Grundlage zwei Kommissionen eingerichtet wurden: die Nationale Kommission für Übergangsjustiz (NCTJ) und die Nationale Kommission für die Vermissten und Verschwundenen (NCM).
Die NCTJ geriet nahezu umgehend in Kritik. Denn der Wortlaut des Dekrets erweckt den Eindruck, die Kommission verfolge vor allem Angehörige und Verbündete des Assad-Regimes. Diese sind für den Großteil der während des Bürgerkriegs begangenen Verbrechen verantwortlich. Doch die Verbrechen anderer Gruppen - darunter auch Assad-Gegner - werden offenbar nicht aufgearbeitet.
Nur eine einzige Tätergruppe im Visier
"Das im Dekret festgelegte Mandat des NCTJ ist beunruhigend eng gefasst und berücksichtigt die Geschichte viele Opfer nicht", schreibt Alice Autin vom Programm für internationale Justiz von Human Rights Watch. Amnesty International und syrische Menschenrechtsorganisationen äußerten sich ähnlich kritisch.
"Indem das Dekret sein Mandat ausschließlich auf eine Tätergruppe beschränkt, schließt es die Möglichkeit aus, Gräueltaten anderer Akteure zu untersuchen, von denen einige noch heute in Übergangsinstitutionen aktiv und einflussreich sind", erklärte der syrische Menschenrechtsaktivist Mustafa Haid letzte Woche in einem Text für "Justice Info", ein von der Schweiz finanziertes Medienunternehmen, das sich auf Fragen der Übergangsjustiz spezialisiert hat.
Kritiker verweisen auf den Umstand, dass Verbrechen auf allen Seiten begangen wurden - so auch von der extremistischen Gruppe "Islamischer Staat" (IS) und von Anti-Assad-Rebellengruppen. Al-Sharaa selbst hatte eine dieser Gruppen, die aus dem Jihadisten-Milieu heraus entstandene Miliz Haiat Tahrir al-Sham (HTS), angeführt.
"Einige halten die Konzentration auf die Verbrechen des Assad-Regimes für gerechtfertigt und längst überfällig", schrieb Joumana Seif, eine syrische Anwältin des Berliner Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte, kürzlich. "Andere kritisieren jedoch, dass zwischen den Opfern ganz offenbar unterschieden wird."
Ähnlich sieht es Mohammed al-Abdallah, Direktor des in Washington ansässigen "Syrian Justice and Accountability Center". "Es gibt keinen umfassenden Plan oder ein Verständnis dafür, warum bestimmte Personen verhaftet werden und andere nicht", so al-Abdallah gegenüber der DW. "Im Grunde ist nichts transparent, und es herrscht sehr wenig Vertrauen."
Zunahme der Selbstjustiz
"Die langsame Reaktion der Regierung bei der Verfolgung von Kriminellen, verbunden mit der Freilassung von Personen, die schwerer Verbrechen beschuldigt wurden - oft ohne Gerichtsverfahren oder Erklärung - hat das Vertrauen der Öffentlichkeit stark untergraben", schrieb ein Experte des britischen Thinktank "Chatham House", Mustafa Haid, kürzlich für das Londoner Medienunternehmen Al Majalla. So schritten viele Menschen zur Selbstjustiz.
Im Mai dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte 157 außergerichtliche Tötungen in Syrien. Experten gehen davon aus, dass etwa 70 Prozent davon das Resultat von Selbstjustiz oder gezielten Tötungen sind, die sich gegen verdächtigte Unterstützer des früheren Assad-Regimes richten.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.