Syrien und der Geist der Gesetze
29. August 2012 An den Buchstaben der Gesetze ist nicht immer etwas auszusetzen. Was dagegen unbedingt verändert werden muss, ist der Geist, in dem sie in Syrien angewendet werden. Um zu dokumentieren, dass der alte Geist nach Assads Sturz vertrieben ist, sollen viele Gesetze neu formuliert werden. So lässt sich die grundlegende Überlegung der Arbeitsgruppe "Rule of Law" im Rahmen des "Day After"-Projekts zur Reform der syrischen Justiz zusammenfassen.
In Syrien, berichtet der Aktivist Rami Nakhla, klaffte zwischen Buchstaben und Geist der Gesetze eine große Lücke. An vielen Gesetzen sei zwar auf den ersten Anschein nichts zu beanstanden gewesen. In der Realität aber habe die Justiz nach einer anderen Logik funktioniert. "In Syrien wusste jeder, dass es keine Gesetzesherrschaft gab. Wenn man gut vernetzt war, wenn man Macht und Geld hatte, unterstand man nicht dem Gesetz. Stattdessen konnte man mit einer bevorzugten Behandlung rechnen." Insofern habe der Bevölkerung jegliches Vertrauen in das Rechtssystem gefehlt, so Nakhla. Für seine Landsleute seien Gesetze nichts anderes als ein Instrument des Regimes zur Unterdrückung der Bevölkerung gewesen: "Bei einem Rechtsstreit kam es immer darauf an, welches Verhältnis die jeweiligen Parteien zur Macht hatten. Das entschied über den Ausgang eines Prozesses."
Viele Bürger, ein Gesetz
Als vornehmste, aber auch schwierigste Aufgabe betrachtet er es daher, den Gesetzen in den Augen der Bürger wieder Achtung zu verschaffen - Achtung in dem Sinne, dass sie die Gesetze als Ausdruck eines über alle Zweifel erhabenen Rechtsstaates ansehen, der seine Bürger nicht in Personen erster und zweiter Klasse unterteilt. "Ob arm oder reich, bekannt oder unbekannt: Das Gesetz soll für alle Syrer als Staatsbürger das gleiche sein."
Den Respekt vor und das Vertrauen in den Rechtssaat wiederherzustellen, wird nicht einfach sein, fürchtet Nakhla. Denn während der sich über vier Jahrzehnte erstreckenden Herrschaft von Vater und Sohn Assad sei das Recht in vielerlei Hinsicht gebeugt worden: "So hatte etwa die Exekutive großen Einfluss auf die Rechtsprechung. Jeder Offizier der Geheimpolizei konnte bei den Gerichten anrufen und mitteilen, welche Strafe er für den jeweils zu Verurteilenden erwarte."
Zweifelhafte Straftatbestände
Dauernd habe es vorsätzliche Rechtsbeugung oder Willkür gegeben, berichtet Nakhla. So habe das Regime die Justiz dazu missbraucht, die Opposition zu verfolgen. Politischen Einspruch habe diese dann zu einem kriminellen Vergehen erklärt. Ein typisches Beispiel dafür sei etwa der Straftatbestand der "Schwächung des Nationalgefühls". "Dieser ist vielen Mitgliedern der Opposition vorgeworfen worden. Wenn man also gegen das Regime war, schwächte man diesem Gesetz zufolge zugleich das Nationalgefühl."
Über 40 Jahre Diktatur hätten das syrische Justizwesen gründlich diskreditiert, so Nakhla. Darum müsse es grundlegend und in vielerlei Hinsicht reformiert werden, und zwar auf mehreren Ebenen. So müssten etwa Teile der Richterschaft fortgebildet werden. Andere hingegen, die sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht hätten, müssten entlassen und zur Verantwortung gezogen werden. Und bereits heute, also noch während der Regierungszeit Assads, sei es wichtig, die bei der Verwaltung, den Geheimdiensten und in den Gefängnissen gelagerten Dokumente und Beweismittel so gut wie möglich zu sichern. Nach Assads Sturz müssten dann die Sonder- und Militärgerichte geschlossen werden. Auch die politischen Gefangenen seien umgehend zu entlassen. Zugleich müsse man aber auch verhindern, dass das Regime womöglich wegen Kriminaldelikten einsitzende Häftlinge entlasse. Dass es dies tun könne, um den Neustart des Landes zusätzlich zu erschweren, hält Nakhla durchaus für möglich.
Vertrauen ins neue Rechtsystem braucht Zeit
Insgesamt herrscht unter weiten Teilen der syrischen Opposition eine einhellige Vorstellung über den grundsätzlichen Geist der neuen Gesetze und Verfassung - und zwar auch unter denjenigen, die nicht an dem "Day After"-Projekt teilgenommen haben. Natürlich, erklärt Osama Monajed, Mitglied des Syrischen Nationalrats und Gründer des in London ansässigen oppositionellen "Strategischen Forschungs- und Kommunikationszentrums" (SRCC), bestehe in vielen Fragen noch Klärungsbedarf. Doch über das Gesamtkonzept herrsche zwischen den meisten Oppositionsgruppen Einverständnis. "Wir alle sprechen uns etwa für die Gleichheit aller vor dem Gesetz aus. Auch soll religiöse und ethnische Diskriminierung fortan als Straftatbestandteil gelten."
Mit Assad werden auch viele Gepflogenheiten des 40 Jahre alten syrischen Justizwesens fallen. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, die Rechtsprechung zu reformieren. Noch länger, so scheint es, wird es brauchen, das ramponierte Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen.