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Politik

Syrienoffensive: Was tun mit IS-Kämpfern?

Deger Akal | Daniel Derya Bellut
17. Oktober 2019

Die türkische Offensive in Nordsyrien ist zwar unterbrochen, hat aber bereits für Chaos gesorgt. Inhaftierte IS-Kämpfer konnten fliehen. Die Terrorgefahr in Europa könnte zunehmen. Experten fordern politische Lösungen.

Syrien, verschleierte Frauen
Bild: Getty Images/D. Souleiman

US-Außenminister Mike Pence und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan haben eine fünftägige Waffenruhe für Nordsyrien vereinbart. Die militärische Offensive der Türken stand international in der Kritik - nicht nur im Hinblick auf die humanitären Folgen. Auch vom sicherheitspolitischen Standpunkt aus betrachtet, stellt sie vor allem europäische Länder vor Herausforderungen. Seit Beginn der türkischen Offensive besteht die Sorge, dass inhaftierte IS-Kämpfer und ihre Angehörigen ihre Chance nutzen und aus kurdischer Haft fliehen.

In der syrisch-türkischen Grenzregion werden rund 12.000 IS-Kämpfer mitten in der Kampfzone in Gefängnissen und Lagern festgehalten, darunter bis zu 3000 Ausländer. Einige nutzten schon die Gunst der Stunde: Nach Angaben der kurdischen Autonomieverwaltung seien fast 800 Angehörige der Dschihadistenmiliz aus einem Lager der nordsyrischen Stadt Ain Issa geflohen; vorausgegangen waren türkische Luftangriffe in der Nähe eines Gefängnisses. Zudem wird befürchtet, dass die türkische "Operation Friedensquelle" die Region destabilisiert und somit die verdeckte Rückkehr von IS-Kämpfern in ihre europäische Heimat erleichtert.

Trump: "Die Türkei muss die Verantwortung für IS-Häftlinge übernehmen"Bild: AP Photo/E. Vucci

So äußerten sich auch Vertreter der US-Regierung besorgt über die mögliche Flucht von IS-Terroristen im Schatten der Militäroperation: Nach einem Telefongespräch am 6. Oktober zwischen Donald Trump und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ermahnte der US-Präsident die türkische Regierung: Die Türkei müsse im Falle einer Militäroperation die Verantwortung für alle IS-Häftlinge übernehmen.

Keine IS-Strategie

Über diese Verantwortung sei sich Ankara jedoch nicht im Klaren, meint Murat Demir Seyrek von der Brüsseler Stiftung European Foundation for Democracy. "Wenn die Türkei beweisen möchte, dass ihr der Kampf gegen den IS wichtig ist, dann ist es angebracht, der Welt eine Strategie vorzulegen." Doch für die westliche Öffentlichkeit und ihre Entscheidungsträger blieben noch Fragen offen, so der Experte für Außenpolitik.

Bisher fielen die Aussagen des türkischen Präsidenten zu diesem Thema eher kryptisch aus: "Die IS-Kämpfer halten sich nicht nur in Raqqa auf, sie sind auch im Norden. Dort schnappen wir sie uns. Alle diejenigen, die aus dem Ausland sind, werden wir wieder zurückschicken - auch wenn die Franzosen und Deutschen 'schickt sie uns bitte nicht' sagen werden", meinte er am Dienstag.

Renard: "Sie hassen den Westen noch mehr als vorher"Bild: Egmont Institute for International Relations

Die unübersichtliche Lage in Nordsyrien werde sich auch auf Europa auswirken und die Terrorgefahr erheblich steigern, meint Thomas Renard vom Egmont-Institut in Brüssel. "Wir haben dem IS-Kalifat eine Niederlage zugefügt. Wir haben es geschafft, fast die Hälfte der IS-Kämpfer zu inhaftieren, und haben dadurch die Bedrohung erheblich reduziert. Aber jetzt, wo sie fliehen können, steigt natürlich das Risiko, dass der IS wieder erstarkt", sagt Renard.       

Radikalisierung nach dem Zerfall des „Kalifats"

Wie umgehen mit europäischen Bürgern, die sich gegenwärtig in syrischen und irakischen Gefängnissen aufhalten und nach dem Zerfall ihres "Kalifats" desillusioniert und radikalisiert in ihre Heimat zurückkehren? Renard meint: "Einige Häftlinge hassen den Westen jetzt noch mehr als zuvor. Einige wurden gefoltert - ihre Kinder wurden unter schwierigen Bedingungen in Lagern festgehalten." Möglicherweise habe der Gefängnisaufenthalt auch der Kontaktpflege im Dschihadisten-Milieu genutzt, so der Experte. 

Ein Horrorszenario ist eingetroffen

Orientierungslos im Umgang mit IS-Kämpfern, mahnt Renard, sei aber nicht nur die türkische Regierung. Auch die europäischen Regierungen hätten Grund zur Selbstkritik. Es gebe kaum "Koordination und praktische Lösungen" im Umgang mit den festgesetzten IS-Kämpfern. "Es muss sichergestellt werden, dass IS-Mitglieder vor Gericht gestellt werden und nach Verbüßung ihrer Strafe keine Bedrohung mehr darstellen. Da das in Syrien oder im Irak nicht möglich war, muss das in ihren Heimatländern passieren."

Zurück in Deutschland und vor Gericht: Der mutmaßliche IS-Terrorist Nils D.Bild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

Die Rückkehr stellt Gesellschaften und Sicherheitsbehörden in Europa vor Herausforderungen. Die Bundesregierung und andere EU-Länder zeigten sich zuletzt bei der Rücknahme von IS-Kämpfern zögerlich - für Terrorismus-Experte Renard zu zögerlich: Man müsse ihnen schnellstmöglich den Prozess machen. "Dazu hätte man sie zurückholen müssen. Das wäre der sicherste Weg gewesen. Jetzt konnten einige fliehen. Ein Albtraumszenario, vor dem sich alle gefürchtet haben, ist nun eingetroffen." Es bleibe nicht mehr viel Zeit, um praktische Lösungen zu liefern, so der Appell Renards.  

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