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Politik

Syriens vergessene Kinder

Diana Hodali Libanon
15. März 2018

Im Libanon wächst eine Generation syrischer Flüchtlingskinder ohne Identität und ohne Bildung heran. Ihre Eltern machen sich Sorgen um die Zukunft, denn ein Ende des Krieges ist auch nach sieben Jahren nicht in Sicht.

Libanon Flüchtlingslager Medyen in Bar Elias | Khaled Ahmad
Bild: DW/D. Hodali

Nur mühsam dringen einzelne Lichtstrahlen durch die morgendlichen weißen Nebelfelder auf dem Weg von Beirut in die gebirgige Bekaa-Ebene. Doch dann werden sie langsam sichtbar, die Zeltlager syrischer Geflüchteter. Hundertfach aufgereiht stehen sie entlang der Hauptstraßen, abgedeckt mit Planen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die Nylonzelte ragen empor zwischen Feldern und Büschen. Der Krieg in der Heimat Syrien, die Bombardierungen Ost-Ghutas sind nur wenige Kilometer entfernt. Und manchmal, glauben einige, hörten sie auch den Krieg.

Doch auch wenn das kriegsgebeutelte Nachbarland so nah ist - die Syrer, die im Ort Bar Elias leben, fühlen sich im Libanon zumindest sicher vor der Gewalt. Eine Zukunft sehen sie dort allerdings nicht, besonders nicht für ihre Kinder.

In dem kleinen Flüchtlingslager Medyen in Bar Elias leben insgesamt neun Familien in acht improvisierten Behausungen, die auf Boden stehen, der im Winter aufweicht und zu einem Sumpf verkommt, die nur schwer beheizt werden können und im Sommer unerträglich heiß werden. "Langsam wird das Wetter besser", sagt Amina Melhem. "Hier im Camp waren alle krank in den vergangenen Wochen." Sie und zwei ihrer sechs Kinder sitzen um einen kleinen Ofen im Zelt, der mitten in dem Raum steht, der Schlafplatz und Wohnraum zugleich ist. Draußen laufen Kinder in Gummischlappen durch den Matsch - dabei sind es gerade Mal zwölf Grad an diesem Tag.

Amina Melhem und Familie - sie leben seit 2012 in Bar Elias im Libanon Bild: DW/D. Hodali

Geflohen aus der Nähe von Homs

Der Großteil der Bewohner sind Kinder - im Alter zwischen zwei und 17 Jahren. Aminas Sohn Khaled al-Ahmad (siehe Bild ganz oben) ist eines von ihnen. "Ich erinnere mich noch gut an Kusseir, meinen Heimatort. Ich war in der dritten Klasse, als wir schnell weg mussten", erzählt der heute 15-Jährige, der schon so erwachsen wirkt. Kusseir, das ist eine Stadt nahe des syrischen Homs, das einst die Hochburg der Rebellen war. Doch die Bomben des Assad-Regimes haben große Teile der Stadt und der Gegend ausradiert. 2012 flohen Khaleds Mutter, sein Vater Medyen, der Namensgeber des Camps, seine Geschwister und Cousins, in den Libanon. Die Al-Ahmads hatten in Syrien einst ein gutes Leben, ein Haus, ein regelmäßiges Einkommen.

Heute teilen sie sich zu neunt ein Zelt, denn die Kinder von Medyens Schwester sind Halbwaisen und leben bei ihrem Onkel. "Ich konnte wenigstens schon schreiben und lesen, als wir hier ankamen", sagt Khaled. Das hat er vielen Kindern und auch einigen seiner Geschwister voraus.

Khadije ist Khaleds Schwester, sie kam im Libanon zur WeltBild: DW/D. Hodali

Eine Zeltschule für die Kinder

Damit die Kinder Lesen und Schreiben lernen und das nicht auch noch verlernen, gründete Medyen al-Ahmad auf eigene Initiative 2016 eine Zeltschule, in der fast täglich 60 bis 70 Kinder aus mehreren Camps von vier freiwilligen syrischen Lehrern unterrichtet werden. Die Klassen sind nach Wissensstand eingeteilt, nicht nach Alter. Zeugnisse gibt es für den Unterricht aber nicht.

Mit finanzieller Unterstützung kleiner Organisationen haben sie nach und nach in einer angrenzenden Baracke drei Klassenräume und einen Arbeitsraum eingerichtet. Zu Beginn waren die Räume kahl, Teppiche ersetzten Stühle, Plastikplanen ersetzten die Fenster. Heute ist das anders - die Wände sind bunt bemalt und es gibt Schulbänke für fast alle Kinder. Abgedichtet ist das Gebäude allerdings immer noch nicht. Der Unterricht musste heute auch ausfallen, da es reingeregnet hat. "Auch wenn die Farbe an der Wand die Lernatmosphäre verbessert", sagt Lehrer Muafak Melhem. "Die psychologische Situation der Kinder hat sich verschlechtert. Viele Kinder haben keine Identität, keine Pässe, keine Bildung." Die Eltern müssten viel arbeiten, ließen die Kinder häufig alleine, von Privatsphäre im Camp mal ganz zu schweigen, sagt er. Aber man müsse dagegen ankämpfen, Generationen von Kindern zu verlieren.

Sorge um die Zukunft

Auch Khaled geht es nicht gut. Er versucht es zu verbergen, will seinen Eltern keine zusätzlichen Sorgen bereiten. Doch dann bricht es aus ihm raus: "Ich will eine berufliche Zukunft haben. Ich will gerne Grafik-Designer werden." Er holt den gespendeten Laptop raus, schaut auf Youtube Tutorials an, um sich Bildbearbeitung selber beizubringen. Mit seinem veralteten Smartphone hat er auch schon eigene Bilder geschossen und kleine Videos gedreht, aber einen eigenen Youtube-Kanal hat er noch nicht eingerichtet, denn es gibt wenig Strom und nur schwaches Internet. In einem angrenzenden Camp spielt er außerdem manchmal Fußball, da gebe es noch ein Feld, das nicht bebaut sei. "Real Madrid ist mein Lieblingsverein", sagt er und das erste Mal kommt ein Lächeln über seine Lippen.

So sieht einer der Klassenräume aus in der Camp Schule ausBild: DW/D. Hodali

Kinder von der Arbeit abhalten

Im Gegensatz zu vielen anderen Eltern verbietet Familie Al-Ahmad ihren Kindern das Arbeiten. Selbst 8-Jährige sind oft auf dem Feld anzutreffen. Immer wieder hört man, dass einige auch als Drogenkuriere missbraucht werden.

Nicht alle Eltern haben einen so offenen Umgang mit dem Thema Bildung wie die Al-Ahmads. "Vielen Eltern fehlt das Bewusstsein dafür, dass Bildung der Schlüssel für die Zukunft ist", sagt Alaa Alzaibk von der ortsansässigen Organisation "Basmeh und Zeitooneh". Basmeh bedeutet Lächeln, Zeitooneh ist der Olivenstrauch und das Symbol für Nahrung und Frieden.

"Der Schlüssel zu Frieden ist Bildung", sagt Alzaibk. "Aber manche Eltern, die 50 Dollar Transportkosten im Monat zahlen müssen, damit die Kinder eine Schule besuchen können, überlegen sich das leider oft zweimal." Basmeh und Zeitooneh bietet daher Aufklärungsworkshops an - für Eltern und für Kinder.

Die Zukunft Syriens

"Wer soll Syrien denn einmal aufbauen, wenn die jungen Menschen keine Ausbildung haben", fragt der Syrer Alaa Alzaibk, der selbst vor fünf Jahren aus Ost-Ghuta geflohen ist. "Ich hatte mein Studium in Syrien schon beendet als alles losging", sagt der heute 31-Jährige. "Aber wenn diese Kinder ohne Bildung irgendwann zurückgehen, dann bieten sie den perfekten Nährboden für Extremisten." 

Der Blick der libanesischen Politiker auf die Flüchtlingsthematik ist auch von Sicherheitsfragen geleitet. Auch sie befürchten, dass junge, bildungsferne Männer bereits im Libanon von Extremisten rekrutiert werden können. Dennoch ist der Zedernstaat alleine nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen. Die Wirtschaft liegt am Boden, Wasser und Strom sind Mangelware. Nach offiziellen Angaben des UNHCR sollen über 1,1 Millionen Menschen aus dem Nachbarland im Libanon Schutz suchen, doch Schätzungen zufolge sind bereits zwei Millionen Syrer im Land. Trotz der überlasteten Infrastruktur, waren die libanesischen Behörden zumindest zu Beginn des Syrien-Kriegs bemüht, die syrischen Kinder in Schulen unterzubringen. Denn auch der Zedernstaat hatte 1991 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, Kindern im Land das Recht auf Bildung zukommen zu lassen.

Die Syrer im Medyen-Camp haben dieses Schild mit der Aufschrift "Wir lieben das Leben" aufgestelltBild: DW/D. Hodali

"Der Druck ist immens groß, auf beide Gesellschaften. Mittlerweile leben hier in Bar Elias 50.000 Libanesen und 70.000 Syrer. Da bleiben Probleme nicht aus. Aber es ist immer noch besser als in anderen Orten", sagt Alaa Alzaibk. Andere Gemeinden verhängen für Syrer nach 19 Uhr sogar Ausgangssperren - um Stress zu vermeiden, heißt es.

Die Organisation Human Rights Watch geht von landesweit 500.000 schulpflichtigen Kindern aus, von denen die Hälfte nicht in eine Schule geht, nicht schreiben, nicht lesen, nicht rechnen kann.

Muafak Melhem unterrichtet schon seit 2016 an der Camp Schule - in Syrien war er auch LehrerBild: DW/D. Hodali

Khaled al-Ahmad darf endlich seit kurzem eine libanesische Schule besuchen. Ein Schulbus holt ihn ab. Denn die Schule ist sieben Kilometer entfernt. Es wurden extra Klassen für Syrer am Nachmittag eingerichtet. "Das ist besser so. Es hat wohl schon viele Probleme und Streits gegeben, da bleibe ich lieber in einer rein syrischen Klasse", sagt er. Er freut sich zwar, dass er einen Abschluss machen kann, aber er weiß auch, dass es schwer sein wird, ein Studium in Grafik-Design finanziert zu bekommen. Dafür reicht das Geld einfach nicht.

Ein Leben in Würde

Khaled ist nur einer von zwei Kindern aus dem Lager, die eine richtige Schule besuchen können. Darüber macht sich auch seine Mutter Amina Gedanken.

"Ich kann alles aushalten", sagt sie. "Ich ertrage, dass wir unser Haus für ein Zelt eingetauscht haben, dass wir ständig in Unsicherheit leben, aber ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder." Der schüchtern wirkenden Frau steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

Khaled und seine Familie wollen den Libanon nicht verlassen, um nach Europa zu gehen. Sie wollen möglichst in der Nähe ihrer Heimat Syrien bleiben. Auch Lehrer Muafak Melhem sieht das so: "Wir werden uns zwar nie an das Leben in einem Zelt gewöhnen, aber es ist besser als bombardiert zu werden. Wir wollen niemandem zur Last fallen. Alle Beteiligten sollen den Krieg endlich beenden." Der Krieg in Syrien geht jetzt in das achte Jahr.

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