Syrische Truppen besetzen Protesthochburg
13. Juni 2011Was genau in Syrien und vor allem im Nordwesten des Landes vor sich geht, ist von außen kaum nachzuvollziehen - unabhängige Quellen gibt es nicht. Fast alle ausländischen und kritischen einheimischen Medienvertreter wurden ausgewiesen oder verhaftet. Wie "heftig" die Gefechte in der Stadt Dschisr al-Schogur zwischen Soldaten und Oppositionellen wirklich sind, die die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA meldet, ist daher ebenfalls unklar. Laut SANA sind die Truppen am Sonntag (12.06.2011) mit Panzern in die Stadt eingerückt. Die Soldaten sollen zahlreiche "Bewaffnete" festgenommen haben. Andere seien in die umliegenden Berge vertrieben worden, hieß es. Das örtliche Koordinationskomitee in Dschisr al-Schogur, das bislang die regierungsfeindlichen Proteste dokumentierte, bestätigte die Angriffe.
Soldaten sollen an Brücken und Straßen installierte Sprengsätze entschärft haben. Mit rund 200 Panzern und anderen Militärfahrzeugen soll die Armee dann in die Stadt einmarschiert sein, berichteten mehrere Nachrichtenagenturen unter Berufung auf Menschenrechtsaktivisten vor Ort. Dschisr al-Schogur ist weitestgehend evakuiert. Die meisten der 40.000 Bewohner sind an die türkische Grenze geflohen. Die Bevölkerung besteht zur Mehrheit aus sunnitischen Muslimen. Dieser Glaubensrichtung gehört auch der Großteil der Syrer an, während die meisten Mitglieder der Regierung und auch Präsident Baschar al-Assad der alawitischen Minderheit angehören.
Der Militäreinsatz gegen die Rebellenhochburg Dschisr al-Schogur ist der bisher größte, den das Regime seit Beginn der Proteste gegen Assad unternommen hat. Nach Angaben der Opposition wurden seit März rund 1300 Zivilisten getötet. Mehr als 10.000 Syrer seien festgenommen wurden, teilte die wichtigste Oppositionsgruppe, die Lokalen Koordinierungsausschüsse, mit.
Verliert Assad den Rückhalt des Militärs?
Auslöser der jüngsten Gefechte war der syrischen Regierung zufolge die Belagerung der Stadt durch bewaffnete Gruppen, die in der vergangenen Woche 120 Polizisten getötet haben sollen. Aktivisten berichten jedoch, dass es zu einer Meuterei von Polizisten und Soldaten kam. Diese wollten nicht gewaltsam gegen die Demonstranten vorgehen und richteten ihre Waffen daher gegen die syrischen Streitkräfte.
Laut Menschenrechtsaktivisten gibt es fünf größere Militäreinsätze im Norden Syriens. Die syrischen Truppen kämpften dabei vor allem gegen abtrünnige Soldaten. "Dies ist die größte und gefährlichste Welle von militärischen Lossagungen seit der Aufstand gegen das Assad-Regime Mitte März begonnen hat", sagte der Aktivist Mustafa Osso der Nachrichtenagentur dapd. 1400 Menschen sollen bislang seit Beginn des Aufstands getötet worden sein.
Einmischen oder zuschauen?
Angesichts der Eskalation der Gewalt in Syrien fordert die internationale Gemeinschaft immer vehementer eine Reaktion des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle verurteilte am Sonntag erneut das Vorgehen der syrischen Regierung. "Durch die Gewalt und den Einsatz schwerer Waffen droht eine humanitäre Krise", sagte der FDP-Politiker. Die Gewalt müsse sofort beendet und Helfern Zugang zu den Krisengebieten gewährt werden. Unterschiedliche Quellen berichten von bis zu 5000 Flüchtlingen, die über die Grenze in die Türkei geflohen sein sollen. Mehr als 10.000 harren demnach noch an der Grenze aus. Der Türkische Rote Halbmond baut weitere Flüchtlingslager auf. Die türkische Regierung versicherte, dass sie die Grenze nicht schließen werde.
Westerwelle betonte, dass nun eine schnelle und klare Reaktion des UN-Sicherheitsrates gefordert sei. "Unsere politischen und diplomatischen Anstrengungen bleiben darauf gerichtet, dass die von uns mit eingebrachte Resolution so schnell wie möglich verabschiedet wird", sagte der Bundesaußenminister. Auch der britische Außenminister William Hague machte am Sonntag deutlich, dass die Zeit zum Handeln für den UN-Sicherheitsrat gekommen sei. Gemeinsam mit Frankreich und Portugal wollen die Deutschen und Briten mit der Resolution ein Waffenembargo durchsetzen. Der Text verurteilt zugleich die Gewalt und Härte des Assad-Regimes, mit der es gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Die ständigen Sicherheitsratsmitglieder China und Russland lehnen die Resolution ab und könnten sie mit ihrem Veto kippen. Auch Südafrika, Brasilien und Indien haben Bedenken geäußert.
Die USA haben dagegen angekündigt, die Resolution mitzutragen. Italien und Australien verurteilten ebenfalls die Gewalt in Syrien. Die italienische Regierung befürchtet, ähnlich wie die deutsche, dass sich die Situation zu einer ernsthaften humanitären Krise ausweiten könnte und verlangte ungehinderten Zugang zu den betroffenen Gebieten für das Internationale Rote Kreuz. Der australische Außenminister Kevin Rudd dringt sogar darauf, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag das brutale Vorgehen des syrischen Präsidenten untersucht. "Das ist mehr als genug", sagte Rudd am Sonntag in einem Interview mit der BBC.
Autor: Nicole Scherschun (afp, dpa, dapd, rtr)
Redaktion: Thomas Grimmer/Ursula Kissel