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Politik

Türkei: Frauen fühlen sich alleingelassen

Daniel Derya Bellut
30. August 2019

Jährlich werden Hunderte Frauen in der Türkei ermordet. Frauenrechtlerinnen wünschen sich besseren Schutz für Frauen vor häuslicher Gewalt. Doch der Justiz und Teilen der Gesellschaft mangelt es am Willen dazu.

Nach dem brutalen Mord an Emine Bulut gingen in vielen türkischen Städten Frauen auf die Straße. In der Hand hielten sie Transparente mit der Aufschrift: "Wir wollen nicht sterben"
Nach dem brutalen Mord an Emine Bulut gingen in vielen türkischen Städten Frauen auf die StraßeBild: DHA

"Ich will nicht sterben", schreit die junge Frau in dem kurzen Videoclip, der vor einigen Tagen auf Twitter geteilt wurde. Mit blutverschmierter Kleidung wankt sie durch ein Restaurant, bricht zusammen; ihre 10-jährige Tochter muss die furchtbare Szene mit ansehen, hat Angst um das Leben der schwer verletzten Mutter.

Kurz darauf erlag Emine Bulut ihren Verletzungen. Wenige Momente vor der Aufnahme hatte Buluts Ex-Mann in aller Öffentlichkeit auf sie eingestochen. Vorausgegangen war ein Streit um das Sorgerecht für die Tochter. Er hätte sich "provoziert gefühlt", weil er seine Tochter nicht mehr hätte sehen dürfen, begründete der Vater seine Bluttat. Eine Lüge, wie die Ermittler feststellten.

Das Video von der Ermordung Buluts veranschaulicht mit grausamer Deutlichkeit ein gesellschaftliches Problem, das in der Türkei bisher totgeschwiegen wird. Mörderische Szenen wie die in dem Restaurant in der zentralanatolischen Stadt Kirikkale spielen sich in der Türkei regelmäßig ab - nur nicht immer in Ton und Bild und in der Internet-Öffentlichkeit,

Tugba Anlak wurde am 31. Juli niedergeschossenBild: IHA

Tugba Anlak, eine 30-jährige Frau aus Istanbul, wurde monatelang von einem Mann sexuell belästigt. Nachdem sie vor einem Monat erneute Annäherungsversuche des Mannes in einem Café ignorierte und das Lokal verließ, drang er mit einem Komplizen in ihre Wohnung ein; mit einer schallgedämpften Pistole schoss er mehrfach auf Anlak. Nach 28 Tagen im Krankenhaus erlag sie den Folgen eines Kopfschusses. 

Frauenmorde: ein strukturelles Problem

Gewaltexzesse an Frauen in der Türkei werden von der zivilgesellschaftlichen Initiative "Wir werden die Frauenmorde stoppen" registriert. Alleine im Juli 2019 sollen 31 Frauen in der Türkei ermordet worden sein. Insgesamt seien nach den Zahlen der NGO dieses Jahr bereits 258 Frauen ermordet worden. Im Jahr 2018 fielen 440 Frauen Mordanschlägen zum Opfer.

Auch in Fußballstadien gab es Proteste gegen Gewalt an Frauen.Bild: DHA/I. Mase

Frauenrechtsorganisationen erhoffen sich nun, dass der öffentliche Druck, der durch den Fall Bulut entstanden ist, einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführt, der nicht nur von der Zivilgesellschaft, sondern auch auf politischer Ebene mitgetragen wird. Die Hoffnung liegt für viele Frauen auf der "Istanbuler Konvention", einem Übereinkommen des Europarats "zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt". Die Unterzeichnerländer sind verpflichtet, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Gewalt gegen Frauen, vor allem häusliche Gewalt, bekämpfen zu können. Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen vor fünf Jahren und ließ es als Gesetz "zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie" rechtlich verankern.

Ein Gesetz, das nicht angewendet wird

Kritisiert wird, dass die Rechtsnorm der Istanbuler Konvention in der Praxis nicht angewendet wird. Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen könnten nur verhindert werden, wenn das Abkommen vollständig von der Justiz und den Strafverfolgungsbehörden berücksichtigt werde. Die Berliner Frauenrechtlerin Sehnaz Kiymaz Bahceci weist darauf hin, dass die Anwendung von Gesetzen zum Schutz von Frauen eine entsprechende Sensibilität in der Justiz und Politik voraussetzt. Um Frauen zu schützen, müsse sich vor allem die politische Klasse wandeln, sagt Bahceci der Deutschen Welle. "Um den Verpflichtungen des Abkommens nachzukommen, fehlt es der Regierung an Willen. Es gibt innerhalb der Regierung Kräfte, die die Gleichstellung der Geschlechter nicht akzeptieren und daher Druck machen." So bleibe das Abkommen auf der Strecke, sagt Bahceci.

Nach dem brutalen Mord an Emine Bulut gab es landesweite Demonstrationen gegen Gewalt an FrauenBild: DHA

Ein kulturelles Problem?

Gökce Yazar von der Anwaltskammer Sanliurfa sieht das Problem in patriarchischen Familienstrukturen und kulturellen Gewohnheiten, was die Anwendung von Gesetzen zum Schutz von Frauen erschwerten. "Es ist üblich, dass eine Frau, die von ihrem Mann bedroht wird und Todesangst hat, deswegen beim Staat Schutz sucht. Die gesetzlichen Regelung sind eigentlich klar, aber dennoch wird ihnen häufig gesagt: 'Geh zurück zu deinem Mann'."

Nach dem Mord an Bulut ging eine Welle der Empörung durch das soziale Netz. Unter dem Hashtag "#Ölmekİstemiyorum" (Ich will nicht sterben) fanden Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen in türkischen Städten stätten. Tausende Frauen gingen diese Woche auf die Straßen, um ein Zeichen für Gleichberechtigung zu setzen - in der Hand Transparente mit der Aufschrift: "Wir wollen nicht sterben" oder "Wir wollen leben". Aber nicht nur Aktivisten, auch Politiker aus Regierung und Opposition reagierten bestürzt auf den Mord an Bulut. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan meldete sich telefonisch beim Vater der Ermordeten und sprach sein Beileid aus. Sogar die Todesstrafe möchte er wieder einführen, um solche Morde zu verhindern.

Staatspräsident Erdogan ist für die Wiedereinführung der TodesstrafeBild: picture-alliance/dpa/AP Photo/Pool/Presidential Press Service

Selbst wenn sich die türkische Regierung und die Justiz dazu entschließen sollten, Gesetzesreformen in Angriff zu nehmen, müssten zunächst gesellschaftliche Hindernisse überwunden werden. Ein Wille, Gewalt gegen Frauen zu reduzieren, ist von weiten Teilen des konservativen Milieus nicht zu erwarten. In der Debatte um eine Reform der Istanbuler Konvention zeigten sich regierungsnahe Medien uneinsichtig: Die Anwendung der Istanbuler Konvention würde nicht Frauen schützen, sondern "die Familie als Institution zerstören", so die gängige Haltung.

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