Türkei beweist mangelnde Reife in der Armenier-Frage
17. Juni 2005
Das Ausmaß der Massaker und Deportationen 1915 und 1916 werde in der Türkei immer noch verharmlost und weitgehend bestritten, heißt es in der mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedeten Entschließung. Zugleich bedauern die Abgeordneten die unrühmliche Rolle, die das Deutsche Reich damals gespielt habe. Deutschland und die Türkei waren im Ersten Weltkrieg Verbündete. Die türkische Regierung wies die Resolution scharf zurück. In Ankara wurde der deutsche Gesandte einbestellt, Außenminister Abdullah Gül bezeichnete die Resolution als "verletzend" für die Türkei und die in Deutschland lebenden Türken.
Niemand weiß ganz genau, wie viele Armenier vor 90 Jahren im Osmanischen Reich getötet wurden. Hunderttausende waren es gewiss, vielleicht auch über eine Million. Sicher ist hingegen: Die Massentötungen ereigneten sich im auseinanderbrechenden Osmanischen Reich - und dessen Rechtsnachfolger ist die heutige Türkei. Ankara trägt keine direkte Verantwortung für die Vorgänge von damals - die Türkische Republik wurde erst acht Jahre später gegründet. Aber ein Land, das seit über 80 Jahren auf Europakurs ist und mit durchaus einleuchtenden Gründen in die Europäische Union strebt - ein solches Land sollte, ja muss die Größe besitzen, sich auch zu den düsteren Kapiteln seiner nationalen Gründungsgeschichte zu bekennen. Diese Größe fehlt den maßgeblichen Politikern in der Türkei nach wie vor.
Appell des Bundestags
Die empörten Abwehrreflexe auf die jüngste Entschließung des Deutschen Bundestages zeugen von dieser mangelnden Reife. Wenn deutsche Parlamentarier die Regierung in Ankara einhellig dazu auffordern, Vertreibung und Massaker an den Armeniern endlich tabufrei aufzuarbeiten, dann geht es bestimmt nicht darum, das türkische Volk zu "verletzen". Und es geht den meisten Abgeordneten auch sicherlich nicht darum, den deutsch-türkischen Beziehungen zu schaden - oder einen neuen Vorwand gegen einen türkischen EU-Beitritt zu finden.
Es kann nur darum gehen, die historische Wahrheit ans Licht zu bringen und die Versöhnung zweier Völker in einer krisengeschüttelten Region voranzutreiben. Allerdings muss ganz deutlich gesagt werden: Hier ist nicht nur Ankara gefordert.
Verdrängung und fehlende Aufarbeitung
Die Türkei hat das Schicksal der Armenier jahrzehntelang tabuisiert oder empört abgestritten. Inzwischen hat sich das Diskussionsklima zwar etwas gelockert. Trotzdem ist erst vor wenigen Wochen wieder eine wissenschaftliche Konferenz zur Armenier-Frage vom türkischen Justizminister unterbunden worden. Allerdings tut auch Armenien bisher zu wenig für Klärung und Versöhnung. So gibt es bisher keine zufriedenstellende Antwort aus Eriwan auf das Angebot des türkischen Ministerpräsidenten, eine gemeinsame Historiker-Kommission einzurichten. Allerdings hat Recep Tayyip Erdogan leider auch versucht, deren Ergebnis bereits vorwegzunehmen - indem er gegenüber einer deutschen Zeitung erklärte: "Es gab keinen Völkermord an den Armeniern." Erdogan sollte zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit der internationalen Historiker ist exakt der gegenteiligen Auffassung.
Eigene Verantwortung anerkannt
Es ist gut, dass die Deutschen sich in ihrer parlamentarischen Resolution auch zu ihrer eigenen unrühmlichen Rolle in den Jahren 1915 und 1916 bekannt haben - das Deutsche Reich war damals als Verbündeter der Osmanen in die Vertreibungspläne und deren Ziel eingeweiht. Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass armenische Verbände damals militärisch mit den ausländischen Kriegsgegnern zusammenarbeiteten und als "innere Gegner" galten. Der spätere türkische Teil-Sieg gegen die Alliierten wurde mit viel Blut erkämpft und führte dazu, dass Ankara kein ungerechtes Friedensdiktat akzeptieren musste. Das alles rechtfertigt nicht das brutale Vorgehen gegen die Armenier. Es erklärt aber, warum viele Türken sich bis heute eher selbst in der Opferrolle sehen - zumal türkische Politiker, türkische Medien und türkische Schulbücher ihnen genau dies jahrzehntelang auch eingeimpft haben.
Damit muss endlich Schluss sein. Denn mit historischem Ballast im Gepäck kann Ankaras Weg nach Europa nur beschwerlicher werden.