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Politik

Türkei: Corona bedroht Häftlinge

Pelin Ünker Istanbul
5. November 2020

Die türkische Justiz geht kompromisslos mit ihren Gefangenen um - viele kranke oder körperlich eingeschränkte Häftlinge sind mangelhaften Haftbedingungen ausgesetzt. Die Corona-Pandemie macht ihre Lage noch bedrohlicher.

Türkei Gericht in Silivri
Bild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis

Der Gefangene Serdal Yıldırım ist schwerbehindert – der Grad seiner Behinderung liegt bei 98 Prozent. Dennoch befindet er sich nicht in ärztlicher Behandlung, sondern teilt sich zusammen mit zwei weiteren Häftlingen mit schweren Behinderungen eine Zelle des Istanbuler Hochsicherheitsgefängnisses Metris. Eigentlich entschied die Rechtsmedizin im Februar 2020, dass Yildirim seine Haftstrafe aus Gesundheitsgründen nicht im Gefängnis absitzen könne. Dennoch lehnte der Staatsanwalt seinen Antrag auf Freilassung ab.

Yıldırım habe eine geschädigte Leber und zahlreiche Wunden am Körper, berichtet sein Bruder Sedat der DW; dennoch warte er seit sechs Monaten auf seine Operation. "Stattdessen verabreichen sie ihm Antibiotika, aber das Medikament wirkt nicht. Sein Zustand hat sich verschlechtert", so Sedat Yıldırım. Zudem berichtet der Bruder davon, dass die Corona-Pandemie die Lage weiter erschwere – in Metris seien unter den Häftlingen immer mehr Fälle der Lungenkrankheit COVID-19 aufgetreten.

İrfan Koç sitzt seit 18 Monaten im Hochsicherheitsgefängnis Menemen bei Izmir. Seit elf Monaten wartet er vergeblich auf eine Operation. Wie seine Frau Züleyha berichtet, habe er Schwellungen im Bauchraum und stark an Gewicht verloren: "Der Arzt geht von Krebs aus. Aber auf eine Diagnose warten wir nun schon seit 16 Monaten." Nun sei ihr Mann auch noch positiv auf das Coronavirus getestet worden, berichtet Züleyha Koç. "Wir baten um Freilassung, eine Krankenhausbehandlung oder eine Umwandlung der Strafe in Hausarrest. Doch wir erhielten keine Antwort".

"Es gibt zu viele Gefangene, die nicht behandelt werden" meint die Menschenrechtsaktivistin Berivan KorkutBild: privat

Wird das Recht auf Gesundheit verletzt?

Es handelt sich bei Koc und Yildirim nicht um Einzelfälle. Neuesten Zahlen des türkischen Menschenrechtsvereins IHD zufolge befinden sich mindestens 1605 kranke oder beeinträchtigte Personen im Gefängnis - 604 hätten sogar schwerwiegende Erkrankungen. Laut IHD nehmen auch die Beschwerden von Häftlingen zu, die ihr Recht auf Gesundheit verletzt sehen.

Zustände, die bei vielen Kritikern Unverständnis auslösen. Laut Berivan Korkut, Koordinatorin der zivilgesellschaftlichen Vereinigung für Personen im Strafvollzug (CISST), würden Gefangene nur in den dringendsten Fällen ins Krankenhaus gebracht. "Es gibt zu viele kranke Gefangene, die nicht behandelt werden. Auch wenn Gefangene die Pandemie überleben, dann sterben sie eben daran, dass sie nicht wegen ihrer anderen Krankheiten behandelt wurden", so Korkut.

Türkeiweit gibt es 355 Gefängnisse mit fast 300.000 Häftlingen. Aufgrund der Pandemie wurden erst im April rund 90.000 Gefangene vorzeitig freigelassen. Darunter befanden sich zahlreiche Gewaltverbrecher, nicht jedoch Journalisten oder Oppositionelle. Und eben auch keine Gefangenen mit Erkrankungen, die durch die Corona-Pandemie eigentlich einem besonders hohem Risiko ausgesetzt sind.

Der Fall Kabakcioglu schockt das Land

Besonders aufgerüttelt wurde die türkische Öffentlichkeit durch den Tod des Gefangenen Mustafa Kabakcioğlu in einem Gefängnis in der Provinz Gümüshane in Nordost-Anatolien. Der vorerkrankte Häftling verstarb Mitte Oktober unter noch ungeklärten Umständen auf einem Plastikstuhl sitzend in seiner Einzelzelle. Die Gerichtsmedizin untersucht seitdem die Ursachen für seinen tragischen Tod.

Sieht sein Land in einer "katastrophalen Lage": HDP-Politiker Ömer Faruk GergerliogluBild: Privat

"In letzter Zeit gab es immer mehr solcher Fälle", kritisiert der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu. "Mustafa Kabakcioğlu ist aufgrund einer schweren Krankheit gestorben, ganz einsam in seiner Zelle. Und er ist kein Einzelfall. Das zeigt, in welch katastrophaler Lage wir uns befinden", so Gergerlioglu, der auch Mitglied im parlamentarischen Menschenrechtsausschuss der Türkei ist.

Corona verschlechtert die Bedingungen weiter

Einem IHD-Bericht zufolge, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, starben in den Monaten Juli, August und September 14 Inhaftierte - darunter drei an Krebs und vier an anderen Krankheiten. "Wir wissen aber auch von weiteren Gefangenen, die aufgrund von COVID-19 im Gefängnis gestorben sind", berichtet Gergerlioglu. "Aber das Justizministerium beantwortet unsere Fragen nicht und hüllt sich in Schweigen", so der HDP-Politiker. Die neuesten offiziellen Zahlen hierzu stammen von Mitte Juni. Damals hatte das Justizministerium verkündet, dass sechs Gefangene aufgrund von COVID-19 verstorben seien; zu dem Zeitpunkt habe es 72 aktive Fälle gegeben.

Gergerioglu kritisiert auch, dass viele Gefangene aufgrund der geltenden Quarantäneregelungen ihre medizinischen Behandlungen nicht bekämen. Auch das CISST-Mitglied Berivan Korkut findet die Regelungen für Gefangene zu hart. "Es gibt kein Radio, kein Fernsehen und keine Möglichkeit, seine Zelle zu verlassen und einen Ausgang zu machen." Auch das IHD bestätigt, dass die Bedürfnisse von Gefangenen, die von einer Krankenhausbehandlung ins Gefängnis zurückkehren, vernachlässigt würden. Vielerorts seien die Quarantänestationen "stickig und schmutzig", schreibt das IHD in seinem neuesten Bericht.

 

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