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KatastropheTürkei

"Wir werden an einer Epidemie sterben"

Alican Uludag
11. Februar 2023

Die Provinz Hatay liegt 200 Kilometer vom Epizentrum des Erdbebens entfernt. Doch die Zerstörung ist groß. Menschen harren seit Tagen im Freien aus, verzweifelt, aber auch wütend, berichtet DW-Reporter Alican Uludag.

Menschen geben Essen an Helfer aus
Essensausgabe für die, die nichts mehr haben in HatayBild: Alican Uludag/DW

"Die Rettungskräfte kamen und gingen wieder, weil sie nichts gehört haben". Semire Özalp ist enttäuscht. Seit Tagen wartet die verzweifelte Mutter auf Hilfe. Ihr 25-jähriger Sohn liegt immer noch unter den Trümmern im Stadtteil Armutlu in Hatay. "Die Helfer haben anscheinend kein Zeichen gehört", erzählt sie traurig der DW. "Aber am ersten Tag gab es doch noch ein Geräusch" wiederholt sie. 

Özalp ist verzweifelt, auch am fünften Tag fleht sie die Mannschaften vor Ort an, nach ihrem Sohn zu suchen. "Vielleicht ist er nicht tot, vielleicht können wir ihn lebend finden". Doch die Rettungsmannschaft zieht weiter. "Ein Team kommt, ein Team geht, niemand hilft. Wir sind machtlos, wir erreichen doch nichts mit bloßen Händen, wir brauchen Maschinen", so die Semire Özalp mit zittriger Stimme.

Fehlende Helfer, fehlende Maschinen und Geräte: Das ist aber noch nicht alles. Neben den Such- und Rettungsaktionen herrscht in Hatay auch nach fünf Tagen weiterhin Chaos. Überall liegen Essensreste und Müll. Starker Verwesungsgeruch breitet sich aus. Kein Wasser, keine Latrinen. In der Stadt befürchtet man nun nach dem Erdbeben den Ausbruch einer Epidemie.

Das Hauptproblem: fehlende Sanitäranlagen

Die gesamte Umgebung rund um die aufgestellten Zelte, von denen es eh viel zu wenige gibt, hat sich aufgrund mangelnder Reinigung in eine Müllhalde verwandelt. Zum einen sind die Leichen unter den Trümmern noch immer nicht beseitigt, zum anderen besteht in der Stadt aufgrund der fehlenden Latrinen und des fehlenden Leitungswassers die Gefahr, dass Krankheiten ausbrechen. In den Parks, in denen Zelte aufgestellt sind, gibt es nur zwei Toiletten, in denen seit Tagen kein Wasser fließt, berichten die Menschen. Dennoch müssen die Menschen hin. Die Städtische Reinigung arbeitet nicht. Menschen werfen ihren Müll um die Zelte herum. Dort entstehen auch langsam Müllberge.

Es fehlt vor allem an Winterzelten, Wasser, Heizgeräten und LatrinenBild: Alican Uludag/DW

Ein junger Freiwilliger aus dem Katastrophengebiet sagt: "Wir haben das Erdbeben überlebt, aber wir haben Angst, dass wir uns eine Krankheit einfangen. Ich habe selbst ein Erdbeben überlebt. Ich wollte als Freiwilliger arbeiten. Gerade wollte ich einen Müllsack kaufen. Es gibt aber keine Müllsacke.", so der Mann. "Alles ist so schlimm. Wir befinden uns in einer sehr schlechten gesundheitlichen Situation. Mit anderen Worten: Es kann jeden Moment zu einer Epidemie kommen. Leichen sind eine Sache, Müll die andere".

Viele, die die schweren Erschütterungen und Nachbeben überlebt haben, kämpfen weiter um ihr Leben. Die Zelte des Türkischen Roten Halbmonds und des staatlichen Katastrophenschutzes AFAD reichen bei weitem nicht aus, beschweren sich viele aus Hatay. Heizgeräte und Stromaggregate sind sowieso Mangelware. Viele wollen daher eher draußen im Freien bleiben, wo sie auch Feuer machen können. Nachts wird es auch in der südlichsten Stadt der Türkei am Mittelmeer sehr kalt.

Die Menschen sind empört: Wir werden im Dreck sterben

Die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD ist überfordert. Eine zentrale Koordinierung der Hilfe scheint auch in Hatay nicht zu funktionieren. Obwohl es im Zentrum der Stadt Zelte gibt, ist keiner vom Katastrophenschutz da, um sie zur Verteilung freizugeben. Die Hilfsmittel, die mit Lastwagen von außerhalb der Stadt kommen, werden willkürlich verteilt. Aus diesem Grund liegen Kleidung und Lebensmittelpakete, die nicht mitgenommen wurden, verstreut in den Zelten oder auf den Straßen rum.

Am stärksten betroffen war der Stadtteil Armutlu in Hatay. Hier herrscht humanitärer Notstand. Nur einige politische Parteien aus dem linken Spektrum sowie andere Gruppen leisten Hilfe. Da hier noch keine Zelte aufgestellt worden sind, suchen die Menschen auf dem überdachten Armutlu-Marktplatz Zuflucht. Ehrenamtliche Ärzte kommen von Zeit zu Zeit und versuchen bei den Verletzten Verbände zu wechseln und die notwendigste medizinische Hilfe zu leisten. Eine ältere Frau, die bei dem Erdbeben verletzt wurde, liegt schon seit Tagen mit gebrochenem Arm auf einem Marktwagen.

Auch das deutsche Rettungsteam ISAR ist in Hatay im EinsatzBild: Piroschka van de Wouw/REUTERS

Mit verzweifeltem Gesichtsausdruck sitzt Yusuf Yildiz am Straßenrand. Aus dem Wohnblock, in dem seine Verwandten lebten, etwa 82 Personen, wurden nur 16 gerettet. Die übrigen sind immer noch unter den Trümmern begraben. Yildiz blickt in die Trümmer.

Wer liegt noch unter den Trümmern?

Auch wenn die Zahl der Such- und Rettungsteams von Tag zu Tag zunimmt, liegen immer noch viele Bewohner unter den eingestürzten Gebäuden. Die Priorität liegt bei den Häusern, aus denen Geräusche und Hilferufe zu hören sind.

Doch auch in Gebäuden, aus denen man nichts hört, sind noch Menschen begraben, glauben viele hier in Hatay. Einige Gerettete lotsen weiterhin die Such- und Rettungsteams zu den eingestürzten Häusern und flehen sie an, nach ihren Angehörigen zu suchen. 

Experten sagen, dass es auch Hohlräume geben könnte, in denen sich noch Menschen befinden. Da aber die kritischen 96 Stunden verstrichen sind und keine Geräusche unter den Trümmern zu hören sind, wurde in einigen Ortschaften schon damit begonnen, Trümmer mit schwerem Baugerät zu beseitigen.

Wenn die Maschinen Beton, Schutt und Stahl anheben, kommt ein Bild des Schreckens zum Vorschein. Unter den Geröllmassen liegen eingedrückte Menschen. Verwesungsgeruch macht sich breit. Die Bergung könnte noch Tage andauern. Tage, die ihre Angehörigen noch weiter ausharren müssen. Dennoch geben sie ihre Hoffnung nicht auf, dass die Toten bald ihren Frieden finden.

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