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Türkei: Der lange Kampf der Samstagsmütter

29. Mai 2024

Seit 1995 kommen die Samstagsmütter jede Woche in Istanbul zusammen und fordern Gerechtigkeit für ihre Angehörigen, die in staatlichem Gewahrsam verschwunden sind - mit einigem Erfolg. Nun fand die 1000. Mahnwache statt.

Rechts ist die 88-jährige Emine Ocak, sie hält ein großes Foto von ihrem Sohn Hasan, der am 21. März 1995 festgenommen wurde. Links die Mutter von Hayrettin Eren, Elmas, die ein Foto von ihrem Sohn in ihrem Schoß hält. Auf beiden Fotos steht: in Polizeigewahrsam verschwunden.
Die 88-jährige Emine Ocak (r.), Mitbegründerin der SamstagsmütterBild: Cumartesianneleri

"Ich bin verletzt. Alle Samstagmütter sind verletzt. Jeder neue Tag ist schlimmer als der vorherige, wenn man keine Gewissheit hat, keinen Grabstein, den man besuchen kann", sagt Emine Ocak. Die Mitbegründerin der Samstagsmütter ist 88 Jahre alt, ihr Gedächtnis lässt seit einiger Zeit nach. "Aber wenn es um meinen Bruder Hasan geht, ist die Erinnerung, der Schmerz weiterhin gegenwärtig", sagt ihre Tochter Aysel Ocak.

Am 21. März 1995 hörten sie zum letzten Mal von Hasan. Am Telefon versprach er, abends Fisch und Kuchen mitzubringen. Er kam nicht. Auch an folgenden Abenden nicht. Nach mühsamer Recherche fand die Familie Ocak heraus, dass er festgenommen worden war. Trotz entsprechender Augenzeugenberichte bestritt die Polizei Hasans Inhaftierung. 

Familie Ocak startete gemeinsam mit dem Menschenrechtsverein eine Kampagne: "Ihr habt Hasan lebendig mitgenommen, wir wollen ihn lebendig zurück." Vergeblich - zwei Monate später fanden sie die Überreste von Hasan auf einem Friedhof in Istanbul, schwer gefoltert und begraben als Namensloser. 

Die türkischen Samstagsmütter haben sich zum 1000. Mal getroffen.Bild: Cumartesianneleri

Die Woche darauf, am 27. Mai 1995, gingen die Frauen von Hasans Familie, Emine, Maside und Aysel zum ersten Mal zum Galatasaray-Platz und hielten dort eine Mahnwache ab - zusammen mit anderen Familien, deren Angehörige auch vor kurzem in staatlichem Gewahrsam verschwunden waren. Seitdem kommen Woche für Woche vor allem Frauen - Mütter, Tanten, Schwestern und Ehefrauen von Verschwundenen. Sie tragen Fotos von ihren Angehörigen, legen rote Nelken nieder, erzählen ihre Geschichten und fordern Gerechtigkeit. Da sie sich immer samstags treffen, nennt man sie die Samstagsmütter.

"Wir fragen zum 1000. Mal: Wo sind unsere Angehörigen?"

Am vergangenen Wochenende hielten die Samstagsmütter, die sich mittlerweile Samstagsmenschen nennen, ihre 1000. Mahnwache ab. Eine Mutter verlas die Erklärung: "Woche für Woche kommen wir hierhin, mit unfassbarem Schmerz und unbändiger Hoffnung. Wir warten auf unsere Liebsten, die der Staat uns weggenommen hat. Heute fragen wir zum 1000. Mal: Wo sind unsere Angehörigen? Warum schützt der Staat die Täter? Wir werden nicht aufhören, Gerechtigkeit zu fordern." 

Für die Samstagsmutter Aysel Ocak hat der Galatasaray-Platz eine große symbolische Bedeutung. "Hier kommen wir zusammen und legen Blumen nieder. Insbesondere für Familien, die noch nicht einmal einen Grabstein zum Trauern haben, ist dieser Platz unglaublich wichtig", sagt Ocak.

Auch wenn ihre 1000. Mahnwache auf dem bekannten Platz stattfand, war dies eine Ausnahme, denn den Samstagsmenschen wurde  2018 verboten, dort zu protestieren. Obwohl das türkische Verfassungsgericht in einem Prozess zu ihren Gunsten urteilte, wird samstags nur zehn Personen erlaubt, hier eine Erklärung zu verlesen.

Nora Cortinas (l.), eine der Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien, die nach ihren Angehörigen suchen, die unter der Militärdiktatur verschwunden waren mit der Samstagsmutter Emine Ocak (r.). Beide Frauenorganisationen pflegen Kontakt zu einanderBild: Cumartesianneleri

1350 Fälle seit 1980

Nach Angaben der Samstagsmenschen wurden seit dem blutigen Militärputsch 1980 insgesamt 1350 Fälle von Menschen registriert, die von Polizisten oder Soldaten festgenommen wurden und anschließend verschwanden. "Hauptsächlich in den 1980er und 1990er Jahren", erzählt Aysel Ocak. "1993 hatten wir 103 Fälle, ein Jahr später 532".

Die 1990er Jahre gehören zu den dunkelsten Kapiteln der jüngsten Geschichte der Türkei. Zwischen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der türkischen Armee tobte damals ein blutiger Krieg, in dem auch viele Zivilisten getötet wurden.

Um die PKK zu bekämpfen, ergriff der türkische Staat harte Maßnahmen: In kurdischen Regionen in den Bergen wurden die Wälder abgeholzt, ganze Siedlungen wurden zwangsevakuiert und verbrannt, damit PKK-Kämpfer keine Zuflucht finden konnten. Mehrere kurdischen Stämme wurden dazu gezwungen, als Paramilitärs am bewaffneten Kampf gegen die PKK teilzunehmen. Wer dies verweigerte, musste mit Schikane, Festnahme und Folter rechnen. Von vielen damals vermissten Personen fehlt heute noch jede Spur. Später kam ans Licht, dass damals für dieses Verschwindenlassen paramilitärische Strukturen gebildet worden waren.

Samstagsmütter kämpfen für Wahrheit und Gerechtigkeit

Für Milena Büyüm, Türkei-Expertin bei Amnesty International, habe der Kampf der Samstagsmütter dieser schrecklichen Praxis zum größten Teil ein Ende gesetzt. "Mit ihrem unermüdlichen Widerstand haben diese Menschen das Verschwindenlassen in der Türkei, das in den 1980ern und 1990ern sehr weit verbreitet war, zum größten Teil verhindert". Ihr Widerstand mache Mut für alle zivilen Organisationen.

Allerdings gibt es seit dem Putschversuch 2016 wieder Vermisstenfälle. Diese beobachtet Ömer Faruk Gergerlioglu, Abgeordneter der prokurdischen Oppositionspartei DEM im türkischen Parlament. Ihm zufolge habe es zwischen 2016 und 2024 mindestens 35 Fälle gegeben. Von drei Betroffenen fehle weiterhin jede Spur. "Der Rest tauchte sechs bis 18 Monate später wieder auf, meistens in Gefängnissen", so Gergerlioglu. Lebendig also - und das sei der Unterschied zu den 90er Jahren. Viele der Betroffenen seien mutmaßliche Gülen-Anhänger. Den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger vermutet die türkische Regierung hinter dem Putschversuch von 2016.

Verschwindenlassen ist eine Straftat

"Das Verschwindenlassen ist eine Straftat", sagt die Amnesty-Expertin Büyüm und verweist auf die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen. In einigen Fällen sei dies sogar eine Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verschwindenlassen werde eingesetzt, um ein Klima der Angst zu erzeugen und bestimmte Gruppen einzuschüchtern. Damit diese Praxis aufhöre, sollten die Staaten solche Straftaten einräumen und die Täter zur Verantwortung ziehen. Staaten, die das UN-Abkommen unterzeichnet haben, verpflichten sich dazu. Die Türkei gehört nicht zu Unterzeichnern.

Mit aller Härte gegen Kritiker

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Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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