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Die Wächter der Wahlen

Julia Hahn/Christian Roman27. Oktober 2015

Terror, Korruption, Manipulationen - in der Türkei herrscht vor den Wahlen am Sonntag ein Klima des Misstrauens. Zehntausende Freiwillige wollen die Abstimmung überwachen. Julia Hahn und Christian Roman aus Istanbul.

Blick in ein Büro, zwei Frauen sitzen an einem Tisch (Quelle: DW/C. Roman)
Bild: DW/C. Roman

Langsam füllt sich der Saal im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Normalerweise finden hier Hochzeiten statt, aber heute geht es um die Demokratie. Sercan Celebi greift zum Mikrofon und betritt die Bühne. "Ständig reden wir über Wahlmanipulationen, Säcke voller Stimmzettel verschwinden, Urnen sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt", sagt er, und seine Botschaft ist klar: Das muss sich ändern. Celebi ist Unternehmer, hat an der Elite-Universität Yale in den USA studiert. Aber jetzt, so kurz vor den Neuwahlen am 1. November, ist er Vollzeit-Aktivist für "Oy ve Ötesi" (auf Deutsch: "Wahlen und mehr"). Mindestens 70.000 freiwillige Wahlbeobachter wollen er und sein Team zusammentrommeln. Sie sollen am Sonntag darauf achten, dass nicht betrogen wird: in mehr als der Hälfte aller Wahllokale im ganzen Land, von Istanbul und Izmir im Westen bis Malatya und Diyarbakir im Osten.

Sercan Celebi ist einer der Gründer von "Oy ve Ötesi"Bild: DW/C. Roman

Kein Vertrauen in die Wahlen

Es sind Angst und Unsicherheit, die die Freiwilligen antreiben - in einem Land, das ihnen fremd geworden ist. Nachdem die regierende AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Juni erstmals ihre Parlamentsmehrheit einbüßte, ist das Land gespalten wie lange nicht mehr. Terrorwarnungen und Hetzkampagnen bestimmen den Alltag, kritische Journalisten und Oppositionelle werden bedroht und weggesperrt.

Baris Zoral wird am Sonntag in einem Wahllokal in Kadiköy Wache schieben. "Ich bin absolut unzufrieden mit der Situation in meinem Land", sagt der 29-Jährige mit den runden Brillengläsern. "Und ich glaube nicht, dass bei den Wahlen alles mit rechten Dingen zugeht." Ähnlich geht es Feriha Eryilmaz, 39 Jahre alt: "Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder", sagt sie.

Laut einer Studie von Politikwissenschaftlern der Istanbuler Koc Universität glaubt inzwischen nur noch jeder Zweite in der Türkei an faire und freie Wahlen. 2007 waren es noch 70 Prozent. Das Misstrauen ist nicht unbegründet. Bei der Kommunalwahl im Frühjahr 2014 etwa fiel während der Stimmauszählung in weiten Teilen des Landes für Stunden der Strom aus. Die Regierung gab später einer Katze die Schuld, sie sei in einem Kraftwerk in einen Stromverteilerkasten geklettert. Seitdem gilt das Wort "Katze" unter Oppositionellen als Synonym für "Wahlbetrug".

Jenseits politischer Grabenkämpfe

In der Zentrale von "Oy ve Ötesi" im Istanbuler Stadtzentrum klingeln die Telefone Sturm, lautes Stimmengewirr füllt die Räume. Bei den Parlamentswahlen im Juni habe "Oy ve Ötesi" zwar keine Manipulationen aufgedeckt, sagt Selin Kori und rückt eine pinkfarbene Werbetafel zurecht. "Aber allein, dass so viele Menschen daran glauben, ist schon Problem genug." Seit der Gründung nach den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013 haben die Freiwilligen von "Oy ve Ötesi" schon vier Wahlen beobachtet. Wer mitmachen will, erklärt Kori, registriert sich auf der Webseite der Organisation. Dann kommt die Einladung zu einem Trainingsseminar. "Bei uns melden sich Leute jeden Alters, Wähler von AKP, MHP, CHP oder HDP", sagt Kori. "Sie machen mit, weil es bei uns nicht um politische Ideologien geht, sondern weil wir unabhängig sind."

Will 70.000 Freiwillige anwerben: Selin KoriBild: DW/C. Roman

Unabhängigkeit, Transparenz, Überparteilichkeit - auf diese Prinzipien schwört auch Sercan Celebi in Kadiköy die angehenden Wahlbeobachter ein. Dazu gibt es einen Crashkurs: Der Wahltag beginnt für die Freiwilligen um 7 Uhr morgens, sie passen auf, dass die Urnen noch leer und die Wahlumschläge versiegelt sind. Dass kein Wähler doppelt abstimmt oder abgewiesen wird. Später zählen sie jeden Stimmzettel mit und schicken ihre Ergebnisse an die Zentrale in Istanbul, damit sie dort mit dem offiziellen Wahlergebnis abgeglichen werden können.

"Gerechtigkeit und Vertrauen" - das wünschen sich die Freiwilligen für die WahlenBild: DW/C. Roman

Wahlbeobachter als Terroristen?

Doch je näher der Wahltermin rückt, desto mehr Kritik und Hetze müssen sich die Beobachter anhören. Regierungsnahe Medien unterstellen "Oy ve Ötesi" Verbindungen zu Terrorgruppen wie der PKK und werfen den Freiwilligen vor, die Wahlen nicht etwa beobachten, sondern gezielt manipulieren zu wollen. "Ich wache jeden Tag auf und sehe, dass wieder jemand Unwahrheiten über mich auf Twitter verbreitet”, sagt Sercan Celebi. "Und ich mache mir Sorgen, dass das Vertrauen in unser Projekt darunter leidet." Doch einschüchtern lassen wollen sich die Freiwilligen nicht. Zehntausende werden am Sonntag ausrücken, aufpassen und mitzählen. "Wenn am Tag nach der Wahl niemand über Manipulationen und Betrug spricht", sagt Celebi, "erst dann sind wir zufrieden".