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GesellschaftTürkei

Türkei: Diyanet darf Koranübersetzungen zensieren

12. Juni 2025

Die türkische Religionsbehörde Diyanet kann nun Koranübersetzungen verbieten, die ihrer Ansicht nach nicht den Grundsätzen des Islam entsprechen. Das sorgt für Kritik und schürt Sorgen um die Glaubensfreiheit.

Ali Erbaş, Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, hält ein Gebet in der historischen Moschee Hagia-Sophia
Ali Erbaş, Präsident der türkischen Religionsbehörde DiyanetBild: ANKA

Die Diyanet ist eine der einflussreichsten Behörden in der Türkei. Nach eigenen Angaben beschäftigt sie über 140.000 Mitarbeiter und bietet ihre religiösen Dienste in mehr als 100 Ländern weltweit an. Die im Jahr 1924 gegründete Behörde untersteht seit 2018 direkt dem islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ihr Jahresbudget von etwa drei Milliarden Euro übertrifft sogar die Etats mehrerer Ministerien, darunter das türkische Innenministerium.

Die Diyanet verwaltet landesweit 90.000 Moscheen, organisiert jährliche Pilgerfahrten, koordiniert Schächtungen zum Opferfest und richtet Korankurse sowie Kulturveranstaltungen aus. Sie bildet auch Imame aus und entsendet diese sowohl ins Inland als auch ins Ausland. Ihre Stiftung ist in 150 Ländern aktiv und erreicht Millionen von Menschen durch Bildungsangebote und Stipendien, von Fernost bis Lateinamerika.

Diyanet erhält Deutungshoheit über Koranübersetzungen

In den letzten Jahren wurden die Befugnisse der Diyanet kontinuierlich erweitert. Nun hat sie auch die Deutungshoheit über Koranübersetzungen erhalten. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz ermächtigt sie, Koranübersetzungen zu prüfen. Falls diese "den Grundcharakteristika des Islam nicht entsprechen", dürfen sie verboten werden.

Bereits veröffentlichte "problematische Exemplare" können eingezogen und vernichtet werden. Dies gilt auch für digitale Inhalte wie Texte, Audio- und Videoaufnahmen im Internet.

Der Koran, das heilige Buch der Muslime, ist in arabischer Sprache verfasst, Übersetzungen sind unerlässlich, um die Texte Millionen von Menschen zugänglich zu machenBild: Godong/Imago Images

Staatspräsident Erdogan hatte der Diyanet diese Kompetenz bereits früher per Dekret erteilt, was dazu führte, dass sie einige Übersetzungen als "unwahrheitsgemäß" einstufte.

Das hielt jedoch vor dem Verfassungsgericht nicht stand. Mit dem neuen Gesetz ist diese Macht nun rechtlich verankert und damit nicht mehr verfassungswidrig.

Kritiker: "Bankrotterklärung des türkischen Staates"

Regierungskritische Theologen sprechen von Zensur und von einem "vom Staat diktierten Islam", der die Glaubensfreiheit in Gefahr bringe.

Für den bekannten Theologen Prof. Dr. Sönmez Kutlu ist dieser Schritt eine Bankrotterklärung des Staates. Seiner Meinung nach sollte ein Land mit über 100.000 Diyanet-Mitarbeitern und mehr als 100 Theologiefakultäten in der Lage sein, den Koran vor sogenannten problematischen Übersetzungen nicht durch Verbote, sondern durch intellektuelle und wissenschaftliche Methoden zu schützen.

Er warnt zudem davor, dass Publikationen, die übersetzte Koranverse enthalten, die angeblich den "grundlegenden Merkmalen des Islam widersprechen", auch zu Ermittlungen und Strafverfolgungen führen könnten.

Die Koranübersetzung von Ihsan Eliacik wurde bereits als "problematisch" eingestuft und verboten - Eliacik gehört zu den Theologen, die der Diyanet kritisch gegenüberstehenBild: ANKA

Der Theologe Ihsan Eliacik sieht in der neuen Befugnis der Diyanet eine grundsätzliche Verletzung des Islam. "Im Islam", so Eliacik, "dürfe sich keine Institution zwischen den Menschen und Allah stellen. Die Überprüfung des Korans auf 'Wahrheitsmäßigkeit' durch die Diyanet tue aber genau dies."

Eliaciks eigene Koranübersetzung wurde zuvor von der Diyanet als problematisch eingestuft und verboten. Er klagte vor dem Verfassungsgericht und bekam Recht. Mit der neuen gesetzlichen Verankerung ist dies nun nicht mehr möglich.

Eliacik, Kutlu und weitere regierungskritische Theologen wurden in den letzten Jahren immer wieder Zielscheibe von Diskreditierungskampagnen durch regierungsnahe Bruderschaften und islamistische Orden.

Wachsender Einfluss religiöser Orden in der Türkei

Ömer Özsoy, Professor für Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, vermutet hinter dem neuen Gesetz den wachsenden Einfluss genau dieser Gemeinschaften auf die Regierung. "Diese Kreise wenden sich seit etwa einem Jahrzehnt offen gegen die wissenschaftliche, kritische und pluralistische Theologie an den islamisch-theologischen Fakultäten der Türkei", so Özsoy. Er beobachte, wie diese "seit geraumer Zeit systematische Kampagnen gegen profilierte Theologen führten.

Özsoy befürchtet, dass das neue Gesetz in einer "repressiven und politisch motivierten Auslegung" breit zur Anwendung kommen könnte. "Übersetzerkollegen berichten, dass die Diyanet bereits die Beschlagnahmung von insgesamt zwölf Übersetzungen vorbereitet hat, darunter auch solche von Mustafa Öztürk und Edip Yüksel", fügt er hinzu.  

Jüngste Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts Konda zeigen, dass der Anteil der sich als religiös bezeichnenden Menschen sank: von 55 Prozent im Jahr 2018 derzeit auf 46 ProzentBild: Shady Al-Assar/ZUMA/picture alliance

Die Rolle der Koranübersetzungen

Der Koran, das heilige Buch der Muslime, ist in arabischer Sprache verfasst. Übersetzungen sind unerlässlich, um die Texte Millionen von Menschen zugänglich zu machen. Doch sie beinhalten auch Interpretationen, insbesondere bei vieldeutigen Wörtern oder Stellen. Deshalb ist das Thema sehr sensibel.

Die Bedeutung von Koranübersetzungen in nicht-arabischsprachigen Ländern wie der Türkei hat in den letzten Jahren zugenommen. Früher, so erklärt Theologieprofessor Özsoy, "oblag die Auseinandersetzung mit dem Koran den religiösen Gelehrten." Heute sei es jedoch anders, so der Theologe. "Heute lesen die gläubigen Laien den Koran direkt und interpretieren eigenständig". Ihm zufolge liegt das an der Individualisierung, dem kritischen Denken und dem Aufkommen verschiedener Bewegungen und Strömungen.

Viele Beobachter vermuten hinter dem neuen Gesetzt den Einfluss regierungsnaher islamistischen OrdenBild: ANKA

Laut Özsoy hat die Zahl der türkischen Koranübersetzungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Unter den Übersetzenden seien viele Personen ohne die erforderliche fachliche Qualifikation. Dieses Problem werde in der Fachwelt breit diskutiert , es gebe hierzu umfangreiche wissenschaftliche Literatur.

Zum Ärger Erdogans: immer mehr Nichtgläubige in der Türkei

Die Religion steht in der Türkei immer öfter im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses. Vor allem junge Menschen lesen die heiligen Schriften und diskutieren über den Islam und stellen viele Thesen in Frage, was der Regierung Sorge bereitet. So betont Präsident Erdogan seit geraumer Zeit, eine "fromme Generation" erziehen zu wollen.

Jüngste Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts Konda zeigen jedoch das Gegenteil: Der Anteil der sich als religiös bezeichnenden Menschen sank von 55 Prozent im Jahr 2018 derzeit auf 46 Prozent, während der Anteil der Atheisten oder Nichtgläubigen im gleichen Zeitraum von zwei auf acht Prozent stieg.

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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