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Politik

Türkei droht EU mit Millionen Flüchtlingen

2. März 2020

Im Streit um die Grenzöffnung für Flüchtlinge erhöht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Druck. "Die Grenzen bleiben offen", sagte er. Kanzlerin Merkel nannte seinen Umgang mit Migranten "inakzeptabel".

Griechenland Grenzübergang bei Kastanies/Edirne
Flüchtlinge am Grenzübergang bei Kastainies in GriechenlandBild: Reuters/A. Avramidis

Jetzt sei es an der EU, ihren "Teil der Last" zu tragen. "Hunderttausende" Flüchtlinge hätten sich seit der Grenzöffnung auf den Weg Richtung Europa gemacht, "bald werden es Millionen sein", sagte Erdogan. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen im Syrien-Konflikt kündigte Erdogan zudem ein Treffen mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin am Donnerstag an. 

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in Berlin: Sie verstehe zwar, dass die türkische Regierung von Europa mehr Unterstützung erwarte. Es sei aber "völlig inakzeptabel", dass dies "auf dem Rücken der Flüchtlinge" ausgetragen werde. Die Türkei stehe "vor einer sehr großen Aufgabe", sagte die Bundeskanzlerin. Doch die Regierung in Ankara müsse ihre "Unzufriedenheit" mit der EU austragen und nicht auf Kosten der Flüchtlinge. Das Thema sei nur zu lösen, indem das EU-Türkei-Abkommen wieder so "hinbekommen" werde, dass es von beiden Seiten "akzeptiert und umgesetzt wird".

Griechenland setzt Tränengas ein

In Griechenland haben Sicherheitskräfte am Montagvormittag abermals Tränengas und Blendgranaten gegen Migranten an der türkisch-griechischen Grenze eingesetzt. Hunderte hatten erneut versucht, die Grenze bei Kastanies zu passieren und nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen, wie es im griechischen Staatsfernsehen ERT hieß.

DW-Korrespondent Max Zander berichtet, in der Frühe seien mindestens vier Boote mit Flüchtlingen auf der Insel Lesbos eingetroffen:

Vor Lesbos ereigneten sich den ERT-Berichten zufolge dramatische Szenen: Ein Kleinkind sei beim Untergang eines Schlauchbootes mit 48 Flüchtlingen aus der Türkei kommend am Vormittag ertrunken. Nach Schilderung des Senders hätten einige der Insassen das Schlauchboot durchlöchert, um als Schiffbrüchige gerettet zu werden. Die Küstenwache habe die Migranten geborgen, hieß es weiter. Für das Kind kam aber jede Hilfe zu spät, berichtete der Staatsrundfunk. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen harren rund  13.000 Frauen, Männer und Kinder bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus.

Mit solchen Schlauchbooten versuchen Flüchtlinge, sich bis nach Lesbos durchzuschlagenBild: Reuters/A. Konstantinidis

Infolge der Eskalation des militärischen Konflikts in Nordsyrien hatte die Türkei am Wochenende ihre Grenzen für Flüchtlinge geöffnet, die in die EU gelangen wollen. Tausende Menschen versuchten daraufhin, über die Grenze nach Griechenland zu gelangen. Den Schritt begründete Ankara damit, dass sich die EU nicht an ihre Verpflichtungen aus dem 2016 mit der Türkei geschlossenen Flüchtlingsabkommen halte. Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.

Die Lage an der türkisch-griechischen Grenze werde in den kommenden Tagen stark zuspitzen, erklärte die EU-Grenzschutzagentur Frontex. "Es wird schwierig sein, den massiven Strom von Menschen, die sich auf die Reise gemacht haben, zu stoppen", heißt es in einem internen Bericht der Grenzschützer, aus dem die Tageszeitung "Die Welt" zitiert.

Abkommen "für beide Seiten gut"

In Berlin warnte Regierungssprecher Steffen Seibert Flüchtlinge und Migranten in der Türkei indirekt vor einem Aufbruch Richtung Europa. "Wir erleben zurzeit an den Außengrenzen der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhigende Situation. Wir erleben Flüchtlinge und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen, und das ist er natürlich nicht", sagte Seibert. Er verwies auf das EU-Türkei-Abkommen zur Begrenzung und Steuerung der illegalen Migration und zur Bekämpfung der kriminellen Schlepper. Die Bundesregierung bleibe überzeugt, dass dieses Abkommen für beide Seiten gut sei, dass es helfe und aufrechterhalten und eingehalten werden solle, sagte er.

Die Bundesregierung müsse sich jetzt federführend für einen Syrien-Gipfel mit der Türkei und Russland einsetzen und so auf Russland und auf die Türkei massiven diplomatischen Druck ausüben, sagte der FDP-Außenexperte Bijan Dijr-Sarai im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Denn während sich die Aufmerksamkeit nun verstärkt auf die griechisch-türkische Grenze richtet, sind die Menschen in Idlib weiter den grausamen Kriegshandlungen ausgesetzt." 

Die Lage am Grenzübergang Pazarkule in der türkischen Stadt EdirneBild: Imago Images/Depo Photos/E. Corut

Frontex setzte die Alarmstufe für alle EU-Grenzen zur Türkei auf "hoch". Zugleich verstärkte Griechenland seine Einheiten entlang der Grenze zur Türkei weiter - und rief seinerseits die höchste Alarmstufe an seinen Grenzen aus. Die Regierung in Athen warf der Türkei vor, Migranten mit falschen Informationen dazu zu bewegen, nach Griechenland und damit in die EU zu kommen. Am Sonntag hatte die griechische Polizei schwere Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt, um die Menschen am Übertritt zu hindern. Sie hatten Medienberichten zufolge Steine und andere Gegenstände auf die Bereitschaftspolizei geschleudert.

"Nachrichten in den sozialen Medien erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Massenbewegung von der Türkei aus hin zu den EU-Grenzen", heißt es in dem Frontex-Report. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis teilte mit, sein Land werde einen Monat lang keine neuen Asylanträge annehmen. Außerdem gilt in dem Land seit Sonntagabend für Sicherheitskräfte die höchste Alarmstufe - sowohl für das Militär als auch für die Polizei, wie ein Regierungssprecher im Staatsfernsehen mitteilte.

Mit Tränengas und Wasserwerfern versuchen griechische Sicherheitskräfte, die Menschen vom Grenzübertritt abzuhaltenBild: picture-alliance/AA/A. Hudaverdi Yaman

Neuauflage des Abkommens?

Der Kandidat für den CDU-Vorsitz, Norbert Röttgen, hat sich vor dem Hintergrund für eine Neuauflage des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei ausgesprochen. "Entweder wir Europäer helfen den Flüchtlingen unter Kooperation mit der Türkei, oder die Flüchtlinge werden aus ihrer Not getrieben und zu uns kommen", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag im ARD-Fernsehen. "Darum brauchen wir eine Neuauflage eines solchen Abkommens." Es gehe nun darum, "ganz schnell" finanziell Hilfe zu leisten, um den Menschen in der Türkei zu helfen.

nob/uh (dpa, afp, epd)