1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Türkei: Ein "Notfallknopf" gegen Frauenmorde

Daniel Derya Bellut
18. Dezember 2019

Hunderte Frauen wurden auch in diesem Jahr wieder in der Türkei ermordet. Mit einer Notfall-App will die Regierung das Problem lösen. Doch langfristig mangelt es an politischem Willen.

Türkei Demo gegen Gewalt an Frauen
Bild: picture-alliance/NurPhoto/D. Cupolo

Gewaltexzesse gegen Frauen empören immer wieder die türkische Öffentlichkeit - auch 2019 machten zahlreiche Frauenmorde Schlagzeilen. Kritiker sind der Meinung, dass die türkische Regierung und die Justiz die Gewalt gegen Frauen nicht ernst nehmen. Doch die zunehmende Empörung in der Internet-Öffentlichkeit und das hartnäckige Engagement von Frauenrechtsgruppen setzt die türkische Regierung unter Druck - die Politik ist gezwungen, sich mehr mit dem Thema zu befassen.

So ließ das türkische Innen- und Familienministerium im März 2018 einen "Notfallknopf" einrichten. Die mobile App "KADES" können sich Frauen auf ihr Mobiltelefon herunterladen. Das Programm kann Alarm auslösen, sobald sich eine Frau in Gefahr befindet oder Gewalt ausgesetzt ist. Im Notfall wird die gefährdete Person mithilfe von GPS geortet -  und die Polizei macht sich umgehend auf dem Weg.  

KADES - eine Erfolgsgeschichte?

Wie das Innenministerium nun berichtete, sei KADES in 21 Monaten von 353.334 Personen heruntergeladen worden - knapp 16.500 hätten den Notfallknopf in diesem Zeitraum ausgelöst. "Dass sich so viele die App heruntergeladen haben zeigt, dass Frauen immer mehr Gewalt ausgesetzt sind. Die Frauen laden sich das Programm aus reiner Angst herunter. Die Gewalt breitet sich aus", kommentiert die Frauenrechtlerin Yalciner Simsek von der Anwaltskammer in Ankara.  

Laut Innenministerium hat sich das Programm bereits positiv ausgewirkt, denn im Vergleich zum Vorjahr hätten die Fälle von häuslicher Gewalt um 19,1 Prozent abgenommen.  Doch Yalciner Simsek ist skeptisch, ob KADES wirksam vor gewaltsamen Übergriffen schützt. "Wir haben das Programm getestet, es funktioniert," sagt sie. Allerdings sei es für sie wichtiger, dass auch tatsächlich Maßnahmen gegen die Täter ergriffen werden nachdem der Knopf gedrückt wurde. "Wir fordern, dass eine Statistik darüber veröffentlicht wird", so die Frauenrechtlerin. 

Proteste selbst beim Fußball - im August entsetzte der Mord an Emine Bulut vor den Augen ihrer Tochter die TürkeiBild: DHA/I. Mase

Bisher 430 Frauenmorde im Jahr 2019

Prävention, die Gewalt gegen Frauen unterbindet, ist dringend notwendig: Die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" hat dieses Jahr bereits 430 Morde an Frauen registriert. Neben vielen anderen brutalen Fällen, die in der türkischen Öffentlichkeit Empörung auslösten, sorgte zuletzt der Mord an Filiz Tekin aus Izmir für Entsetzen: Die Frau wurde vor zwei Wochen von ihrem alkoholisierten Mann verprügelt, weil sie nicht ausreichend gepflegt gewesen sei. Weil der Täter ihr anschließend verweigerte, im Krankenhaus die Verletzungen behandeln zu lassen, verstarb sie acht Tage später.

Frauenrechtsgruppen hoffen nun, dass der öffentliche Druck, der durch solche Fälle entstanden ist, einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführt, der nicht nur von der Zivilgesellschaft getragen wird, sondern auch von Politikern.

Werden rechtliche Schritte eingeleitet? 

Gülsüm Kav von der Plattform zur Bekämpfung von Frauenmorden findet, "dass das Programm KADES natürlich ausprobiert werden sollte". Sie betont jedoch, dass die Rechtsnormen zum Schutz von Frauen von der Justiz effektiver umgesetzt werden müssten, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern. "Es müssen Schritte dafür unternommen werden, dass die Istanbul-Konvention angewendet wird. Sie muss endlich auf die verantwortlichen Institutionen übertragen werden." 

Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2011. Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen vor fünf Jahren und ließ es als Gesetz rechtlich verankern. Doch in der Praxis, sagen  Kritiker, werden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention nicht angewendet und die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen nicht realisiert. 

Polizei geht gegen Frauenrechtlerinnen vor

Demonstrierende Frauen und die Polizei am Tag gegen Gewalt an Frauen in IstanbulBild: Reuters/U. Bektas

Auch wenn Regierungsmitglieder nun mit der Einrichtung des Notfallknopfs KADES guten Willen zeigen, um Gewalt gegen Frauen vorzubeugen - der politische Wille, das Problem nachhaltig zu bekämpfen, ist bisher nicht zu erkennen. Als sich am 25. November rund 2000 Frauen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen in Istanbul versammelten und unter anderem gegen Frauenmorde protestierten, löste die Polizei die Veranstaltung mit Tränengas und Plastikgeschossen auf. 

Letzte Woche ging die Polizei gegen Frauen vor, die sich in Istanbul, Ankara und Izmir versammelten, um den Tanz des feministischen Kollektivs "Las Tesis" aus Chile aufzuführen. Der Tanz wird von einem Song begleitet, in dem die gesellschaftlichen Strukturen kritisiert werden, die Gewalt an Frauen ermöglichen und legitimieren. Die Versammlungen wurden von der Polizei gewaltsam aufgelöst - es kam zu neun Festnahmen in Ankara, sieben in Istanbul. 

Während einer Versammlung im türkischen Parlament, bei der auch der türkische Innenminister Süleyman Soylu anwesend war, ergriffen Abgeordnete der sozialdemokratischen CHP die Initiative und führten im Parlament - durch ihre Immunität geschützt - den chilenischen Tanz auf, während einige Abgeordnete Fotos von ermordeten Frauen hoch hielten. Der Innenminister zeigte wenig Gefallen an der unangekündigten Aufführung - man könne solche Aktionen nicht dulden, so Soylu.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen