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Politik

Türkei: Eine Kultur der Lynchjustiz?

4. Mai 2019

Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei wurde von einem wütenden Mob attackiert und entgeht nur knapp dem Tod. Was sagt der Vorfall über die politische Kultur im Land aus?

Angriff gegen dem CHP führer Kemal Kilicdaroglu
Angriff gegen dem CHP führer Kemal Kilicdaroglu Bild: DHA

Der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP Kemal Kilicdaroglu hatte sich am 21. April sicherlich auf einen besinnlicheren Tag eingestellt. In Cubuk, ungefähr 40 Kilometer nördlich von Ankara, nahm er an einer Beerdigung eines gefallenen Soldaten teil, der bei Kämpfen mit kurdischen Milizen ums Leben kam. Doch es kam anders:

Die Stimmung unter den Besuchern ist aufgeheizt. Als der CHP-Vorsitzende zur Beerdigung kommt, eskaliert die Situation. Eine aufgebrachte Menschenmenge attackiert den 70-Jährigen - die wilde Meute umzingelt ihn, von allen Seiten prasseln Schläge auf ihn ein, ein paar Fausthiebe treffen ihn im Gesicht.

"Brennt das Haus nieder"

Mit schmerzverzerrter Mine versucht er sich inmitten des tosenden Mobs auf den Beinen zu halten. Die Personenschützer des Oppositionsführers keilen ihn ein, um ihn von den zahlreichen Angreifern abzuschirmen. Schließlich gelingt es ihnen, in ein Haus zu flüchten.

Doch es ging weiter. Kilicdaroglu hatte zwei Stunden in dem Haus ausgeharrt, das von Männern belagert wurde. Einige riefen laut: "Brennt das Haus nieder."

Der Angriff sorgte in sozialen Netzwerken für große Empörung. Auf Twitter solidarisierten sich hunderttausende unter dem Hashtag #KilicdarogluYalnizDegldir (Kilicdaroglu ist nicht allein) mit dem türkischen Oppositionsführer. 

Ein Tweet von Eren Aysan ging besonders viral: "Bei dem Massaker in Sivas wurde mein Vater getötet. Und ich stelle fest, dass sich in den letzten 26 Jahren nichts geändert hat. Wieder heißt der Aufruf: steckt das Haus in Brand." 

Kilicdaroglu kein Einzelfall

Der Tweet traf einen Nerv. Denn die Worte erinnern viele Menschen in der Türkei daran, dass die Attacke bei der Beerdigung kein Einzelfall war. Der Tweet erschien plausibel, denn er stammte von der Tochter des berühmten türkischen Dichters Behcet Aysan.

Dieser kam im Jahr 1993 in der zentralanatolischen Stadt Sivas bei einem Fall von Lynchjustiz ums Leben: Am Rande eines alevitischen Kulturfestivals zündete eine religiös-fanatische Meute das aus Holz gefertigte Hotel an, indem sich überwiegend alevitische Hotelgäste aufhielten. 37 Menschen kamen bei dem Brandanschlag ums Leben.

Ein weiterer Fall von Lynchjustiz, der bei älteren Türken traurige Erinnerungen weckt, ereignete sich im Jahr 1977. In der türkischen Provinz Kahramanmaras massakrierten Rechtsextreme, die der ultranationalen MHP nahestanden, mehr als 100 Aleviten, teilweise auf offener Straße. Viele ähnliche Fälle von Lynchjustiz - besonders gegen die alevitische Minderheit - ereigneten sich seit den 1960er Jahren in der Türkei.

Im Jahr 2017 verhinderte in Ankara ein wütender Mob die Beerdigung der Mutter der stellvertretenden Vorsitzenden der prokurdischen HDP-Partei, Aysel Tugluk. Der Leichnam der Mutter wurde aus dem Grab genommen und musste notgedrungen in einer anderen Stadt beerdigt werden. Dieser Fall und die Causa Kiricdaroglu haben das Thema Lynchjustiz nun in der akademischen Welt auf den Plan gerufen.

"Lynchen wird an der Schwelle zur Krise oft angewandt"

Kritiker sehen die Regierungspartei AKP in der Verantwortung. Der Verteidigungsminister Hulusi Akar war auch bei der Beerdigung des Soldaten anwesend und zeigte bei der Attacke Verständnis für die wildgewordene Meute. "Liebe Freunde, ihr habe euren Standpunkt klar gemacht, geht jetzt bitte nach Haus", so der AKP-Mann.

Der Soziologe Besim Can Zirh von der Technischen Universität Ankara sieht Lynchjustiz als ein "probates Mittel" der türkischen Regierung in krisengeprägten Zeiten. Die anti-alevitische Stimmung vor den Massakern in Kahramanmaras und Sivas seien dadurch motiviert gewesen, dass Aleviten damals auf dem Weg gewesen seien, sich politisch und gesellschaftlich zu etablieren.

Eine ähnliche Situation, so suggerierte er, erlebe man gerade mit den Säkularen in der Türkei. Die Lynchpolitik habe drei Zwecke: "es schüchtert aufstrebende soziale Gruppen ein, es dient als ein Ventil für politischen Hass der Bevölkerung und es sendet eine Warnung aus: rückt nicht von dem Lebensweg ab, den wir für euch vorgesehen haben."

Der Leichnam der Mutter von Aysel Tugluk wurde aus dem Grab genommenBild: DHA

Sezgi Durgun von der Istanbuler Marmara Universität stimmt der These zu, dass Lynchjustiz vor allem in unbeständigen Zeiten auftrete. "Solche Vorfälle zeigen, wie viel Gewalt Menschen verinnerlicht haben. Das gefährlichste bei Lynchjustiz sei, dass der Einzelfall zu einer kollektiven Moral führen könnte und sich die Annahme verbreitete, dass das Gesetz außer Kraft sei." 

Der Lynchversuch illustriere, so Durgun, dass Populismus und die aufgeladenen Diskurse nun in einer heftigen Polarisierung gipfeln. Dass sich die von nationalen Gefühlen getriebenen Bürger das Gesetzt selber in die Hand nehmen, sei da wenig verwunderlich.

"Wir küssen prügelnde Fäuste"

Die Akademikerin Nagehan Tokdog schlägt in die gleiche Kerbe: Auch sie sieht ein Klima der Unsicherheit als entscheidenden Faktor. Die politische Instabilität sowie die Wirtschaftskrise seien dafür verantwortlich, dass Aggressionen gegenüber diversen Gruppen nun häufiger auftreten würden.

Doch macht sie auch die türkische Mentalität dafür verantwortlich, dass Lynchjustiz in der Türkei hin und wieder auftritt. Die Türkei sei eine Gesellschaft, die die Fehler und Verbrechen der Gesellschaft ungerne zugestehe. "Wir schaffen es nicht zuzugeben, dass so etwas eine Schande ist. Wir prangern solche Taten einfach nicht an. Ganz im Gegenteil, wir küssen die prügelnden Fäuste".

Handküsse für den Schläger

Tokdog spielt auf die skurrilen Bilder an, die in den sozialen Netzwerken nach dem Vorfall bei der Beerdigung herum gingen: Einer Person, die einem Fausthieb das Gesicht des Oppositionsführers landete, wurde nach dem Schlag liebevoll die Hand geküsst.

Während Akademiker die Attacke auf den Oppositionsführer mit der türkischen Mentalität oder einer Phase politischer Unsicherheit erklären, haben Menschen in der nicht-akademischen Welt einen Drahtzieher ausgemacht. Auch wenn sich die Regierungspartei von dem Vorfall mit den Worten "Die AKP ist gegen jeden Form von Gewalt" umgehend distanzierte.

Viele Menschen in der Türkei lasten den Vorfall dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an. Denn bei den Kommunalwahlen vor über einem Monat hatte er Kilicdaroglu mehrfach vorgeworfen, dass er die verbotene Terrororganisation PKK unterstützen würde.

Die polarisierende Rhetorik zeigte bei dem Vorfall sein wahres Gesicht. Unter der aufgebrachten Menge waren - wie Ermittlungen ergaben - waren auch einige AKP-Anhänger.

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