Türkei: Erdogan spielt mit hohem Einsatz
27. März 2025
Die Nachricht von der Verhaftung des Erdogan-Rivalen Ekrem Imamoglu in der vergangenen Woche hatte hohe Verluste an den türkischen Kapitalmärkten zur Folge. Bei vielen Investoren war offenbar das Vertrauen in das Land erschüttert. Das führte dann zur schwächsten Börsenwoche seit der weltweiten Finanzkrise 2008: Der Aktienindex ISE 100 verlor vorübergehend mehr als 16 Prozent seines Wertes.
Als Reaktion darauf untersagte die Kapitalmarktaufsicht der Türkei Leerverkäufe und Wetten auf weiter fallende Kurse. Gleichzeitig erleichterte sie Aktienrückkäufe, damit die Kurse abstürzender Papiere gestützt werden konnten. Kurzfristig stieg der Index zwar um rund zwei Prozent, drehte aber wieder ins Minus und auf den tiefsten Stand seit November.
Beobachter sind sich einig: Diese Entwicklung könnte für Erdogan noch zu einem großen Problem werden. Denn in den vergangenen Jahren hatten türkische Anleger am Aktienmarkt investiert, um ihr Vermögen vor der hohen Inflation zu schützen, die im März immer noch bei 39 Prozent lag.
Minister verspricht Stabilität
Zu Beginn dieser Woche entspannten sich die türkischen Anleihe- und Aktienmärkte ein wenig, als Finanzminister Mehmet Simsek versprach, "alles Notwendige" zu tun, um die Finanzmärkte zu stabilisieren. Er sagte, die Türkei böte weiterhin gute langfristige Anlagemöglichkeiten. Gemeinsam mit Zentralbankgouverneur Fatih Karahan bekräftigte er das Versprechen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die seit zwei Jahren verfolgte investorenfreundliche Politik beizubehalten, um Massenverkäufe der Lira durch türkische Staatsbürger zu vermeiden.
Die türkische Lira hat gegenüber dem Dollar nachgegeben. Dass es lediglich um drei Prozent nach unten ging, beruhigte die Anleger aber. Timothy Ash, Analyst bei RBC Bluebay zur Nachrichtenagentur Bloomberg: "Die meisten (Lira-) Abflüsse scheinen von Ausländern zu kommen."
Kurzer Schock
Erdal Yalcin, Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung in Konstanz (HTWG), weist gegenüber der DW darauf hin, dass sich die Türkei "nach einer längeren Phase der politischen Unsicherheit, extrem hoher Inflation und einer anhaltenden Wirtschaftskrise zuletzt wieder auf einem stabilisierenden Weg befand". Mit sehr hohen Zinssätzen und einer gestützten Lira sei es zuletzt gelungen, "internationale Investoren erneut ins Land" zu locken. "Staatsanleihen und Börsen befanden sich auf einem klaren Erholungskurs."
Derzeit aber, so Yalcin, wirke sich die Inhaftierung Imamoglus auch an den Märkten aus: "Kurzfristig ist die politische Unsicherheit im Land abrupt angestiegen. Innerhalb weniger Stunden zogen internationale Investoren große Mengen Kapital aus den türkischen Finanzmärkten ab. Gleichzeitig geriet die türkische Lira massiv unter Druck und die Zentralbank sah sich gezwungen, massiv Reserven zu verkaufen, um die Währung zu stabilisieren."
Kein 'Aufregerthema' mehr
Eine der wichtigsten Branchen in der Türkei ist der Tourismus. Dort könnte sich die nun wieder verschärfte Unsicherheit in der Türkei am sichtbarsten niederschlagen. Dirk Schmücker, Wissenschaftlicher Leiter am Institut NIT (New Insights for Tourism) in Kiel denkt, dass man die Folgen auch an den Mittelmeerstränden ablesen könnte. Jedoch sei "das Ausmaß unklar und sollte nicht überschätzt werden", schrieb er der DW. "Die jetzige Verhaftung ist ja auch in der jüngeren Vergangenheit nicht das erste Mal, dass sich die türkische Regierung anders verhält, als wir es von den meisten europäischen Regierungen gewohnt sind."
Noch zurückhaltender reagiert Marco A. Gardini, er ist Professor an der Fakultät für Tourismus-Management der Hochschule Kempten. Das Vorgehen gegen den Bürgermeister sei zwar "in internationalen politischen und diplomatischen Kreisen von hoher Relevanz." Aber das werde für viele "potenzielle Türkeireisende kaum Einfluss auf die Buchungsentscheidungen haben" Das sei "kein ausreichendes 'Aufregerthema' mehr. Mittlerweile sind es nur noch sehr wenige Touristen, die aufgrund der Person und Politik Erdogans die Türkei als Reiseland meiden."
Die größte Gefahr ist global
Die gegenwärtigen Proteste in der Türkei werden kaum einen Einfluss auf den Tourismus haben, meint Gardini. Stattdessen müsse man die Folgen des Klimawandels fürchten. Das sei "die größte Gefahr, die dem Tourismus langfristig droht." Bekäme man die Klimaerwärmung nicht in den Griff, würden "Regionen, die zu bestimmen Zeiten massiv brandgefährdet sind, wahrscheinlich gemieden werden."
Auch Tourismus-Forscher Schmücker hält die türkische Innenpolitik nicht für einen wirklich entscheidenden Faktor. Auf die Frage, was Touristen von einer Reise abhalten könnte, schreibt er: "Im Wesentlichen eine klare Bedrohung der eigenen Sicherheit oder weil nach einer Naturkatastrophe keine Straßen und Hotels nutzbar sind oder weil man kein Visum mehr bekommt. Ansonsten sind deutsche Touristen (und vermutlich nicht nur die) ziemlich robust bei der Verfolgung ihrer Urlaubswünsche, vor allem, wenn es dann auch noch billig ist."
Gefahr eines Flächenbrandes
Aber nicht nur die Tourismusbranche muss die Folgen innenpolitischer Unsicherheiten fürchten. Laut Erdal Yalcin haben auch andere Wirtschaftszweige Grund zur Sorge. Da seien zunächst die Banken und das gesamte Finanzsystem. "Aufgrund erhöhter Finanzierungskosten", so der Volkswirtschaftler, "stehen türkische Banken unter erheblichem Druck." Internationale Investoren könnten sich zurückhalten, und es bestehe das "Risiko für Kapitalabflüsse, was Liquiditätsprobleme verstärken und die Stabilität des gesamten Finanzsystems gefährden könnte."
Sehr abhängig von ausländischen Investoren sei auch der Immobiliensektor. Yalcin: "Eine zunehmende politische Instabilität erhöht das Risiko von Kapitalabzügen sowie Finanzierungsproblemen, insbesondere in einem Umfeld steigender Zinsen und hoher Wechselkursvolatilität."
Außerdem könnten exportabhängige Industrien in Mitleidenschaft gezogen werden: "Die könnten unter erschwerten Handelsbedingungen leiden, da internationale Geschäftspartner zurückhaltender agieren und möglicherweise höhere Sicherheiten oder Risikoprämien verlangen. Unsicherheiten auf dem Devisenmarkt erhöhen zudem die Absicherungskosten für Exportunternehmen, was deren Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen könnte."
Ein wichtiger Partner
Fragt man nach wirtschaftlichen Folgen der Festnahme Ekrem Imamoglus, sollte man nicht vergessen: Die Konsequenzen werden sich erst im Laufe dieses Jahres zeigen. Erdal Yalcin von der HTWG in Konstanz sieht eine realistische Chance, dass die gegenwärtige politische Krise keine langfristigen Folgen für die türkische Wirtschaft haben könnte. Schließlich habe "der türkische Finanzminister entschlossenes Handeln angekündigt, was positiv aufgenommen werden könnte."
Es seien darüber hinaus sowohl die EU als auch die USA auf eine stabile Türkei angewiesen, "einerseits als wichtiger NATO-Partner, andererseits als strategisch bedeutender Puffer zur Eindämmung von Migrationsströmen nach Europa. Entsprechend zurückhaltend waren bisher kritische Stimmen aus Europa."