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PolitikTürkei

Türkei: Erdogans scharfe Töne nach dem Wahlsieg

30. Mai 2023

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Für fünf weitere Jahre wurde er wiedergewählt. Wer seine Siegesrede gehört hat, kann nicht auf Versöhnung hoffen.

Erdogan spricht vor seinen Anhängern
Der türkische Präsident Erdogan am Abend der gewonnenen StichwahlBild: Chris McGrath/Getty Images

Es war zwar nicht so leicht wie bisher, dennoch hat er es wieder geschafft: Der amtierende türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist auch der neue Präsident. Bei der Stichwahl am Sonntag hat der 69-jährige mehr als 52 Prozent der Stimmen für sich gewinnen können und bleibt nun für fünf weitere Jahre im Amt.

Das wird sein drittes Jahrzehnt an der Macht sein. Zunächst als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident hat Erdogan das Land so stark geprägt wie kein anderer Politiker je zuvor. 

Erdogans Anhänger feierten den Sieg die ganze Nacht langBild: Ozan Kose/AFP via Getty Images

Vor diesen wichtigen Wahlen hatten die Umfragen ihn hinter seinem Herausforderer gesehen, woraufhin Erdogan neue Verbündete in seine Volksallianz holte. Diese gewann dann bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 323 der 600 Sitze und holte eine Mehrheit. Das neue Parlament ist zudem das konservativste, nationalistischste und islamistischste der jüngsten Geschichte

Siegreich - trotz mehrerer Krisen in der Türkei

Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) leben in der Türkei rund vier Millionen Schutzsuchende - eine gewaltige Herausforderung. Hinzu kamen die Wirtschaftskrise, galoppierende Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, Pandemie und die zwei großen Erdbeben.

"Trotz dieser verschiedenen Krisen haben sich die Wähler für einen Präsidenten entschieden, der bei all diesen Krisen an der Macht war", erinnert die Politikwissenschaftlerin Evren Balta von der Özyegin Universität in Istanbul. Einerseits sei es für viele eine Überraschung, andererseits sei auch damit zu rechnen gewesen, sagt die Expertin. Denn in solchen Krisenzeiten tendierten die Wähler oft dazu, sich für einen Politiker zu entscheiden, den sie schon kennen. Sie ist der Ansicht, dass das Vertrauen in Erdogan etwas geschwächt ist, dennoch hätten die Wähler für ihn gestimmt, anstatt mit einem neuen, nicht regierungserfahrenen Politiker zu experimentieren.  

Erdogans Herausforderer Kemal KilicdarogluBild: Yves Herman/REUTERS

Wie es scheint, ist Erdogan diese Erkenntnis sehr bewusst. In seiner traditionellen Siegesrede auf dem Balkon seines Palastes am Wahlabend zeigte er sich seinen Anhängern gegenüber sehr dankbar. Er sang mit ihnen Lieder und versprach, "bis ins Grab" bei ihnen zu sein. Seine Verbündeten bat er einzeln auf die Bühne und bedankte sich, dass sie diesen "Jahrhundertsieg" ermöglicht hätten.  

Erdogans Attacke auf die Opposition

Keine Gnade dagegen zeigte er für die Opposition. Weiterhin warf er seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu vor, Befehle aus der Zentrale der Terrororganisationen PKK zu bekommen und diese umzusetzen. Nicht umsonst habe Kilicdaroglu versprochen, den Ex-Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, freizulassen, so Erdogan vor über 350.000 Anhängern. Demirtas sei ein Terrorist, den er niemals freilassen werde. Die Menge forderte daraufhin die Todesstrafe für Demirtas. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits mehrmals die Freilassung des kurdischen Oppositionspolitikers verlangt - bisher vergeblich. In den Wahlkampf hatte Demirtas sich vom Gefängnis aus über seine Anwälte eingemischt - und sich für eine Wahl Kilicdaroglous ausgesprochen.  

Der frühere Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Demirtas, wurde auch nach der Wahl von Erdogan hart attackiertBild: HDP

Ibrahim Uslu, Meinungsforscher und Experte für politische Kommunikation, geht davon aus, dass Erdogan diese harte Rhetorik fortsetzen wird. Seiner Ansicht nach sieht Erdogan keinen Grund für eine Veränderung. Seinen erneuten Sieg sehe er als eine Bestätigung seiner bisherigen Linie.

Uslu verweist darauf, dass in knapp zehn Monaten in der Türkei Kommunalwahlen stattfinden. Das Land werde in wenigen Wochen wieder in einen Wahlkampfmodus gehen, meint Uslu.

Polarisierung treibe Erdogan außerdem voran, um die Aufmerksam der Bevölkerung von tatsächlichen Problemen abzulenken, wie von der maroden Wirtschaft und der sozialen Ungleichheit im Land. Würde der türkische Präsident sich dagegen versöhnlich zeigen, würde die Bevölkerung Uslus Einschätzung zufolge beginnen, die Regierung auf den Prüfstand zu stellen und vor allem sie zu hinterfragen. Daher erwartet er, dass Erdogan diesen schärferen Ton bis nach den Kommunalwahlen im Frühling 2024 weiterführen wird.

Zukunft des Oppositions-Bündnisses ungewiss

Die Frage ist, ob das überhaupt notwendig sein wird. Denn es steht noch nicht fest, ob die größte Oppositionsallianz nach dieser Niederlage überhaupt bestehen bleibt. Vor drei Jahren wurde sie vom Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu geschmiedet. Ihre sechs Mitglieder, die sehr unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, haben für den Zusammenhalt schwierige Zugeständnisse gemacht. Doch ob diese Parteien nun weiter zusammenhalten?

Auch die LGBTI+-Community wurde während des Wahlkampfes und in Erdogans Siegesrede hart angegriffenBild: TİP

Prof. Evren Balta ist der Meinung, dass das Bündnis zumindest bis zu Kommunalwahlen bestehen bleibt, da auf kommunaler Ebene nicht so große Zugeständnisse gemacht werden müssen wie bei den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen.

Dennoch meint sie, dass die Opposition sich kritisch mit der aktuellen Niederlage auseinandersetzen muss und neue treibende Kräfte und Akteure braucht, wenn sie erfolgreich sein will. 

Erdogans Vermächtnis

Während die Opposition sich mit der Niederlage beschäftigt, feiert Erdogan seinen Sieg. Doch wie sehr hat er wirklich triumphiert?

Henrik Meyer, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul, sieht das differenzierter. "Dass Erdogan erst in eine Stichwahl gehen musste, diese dann mit nur 4 Prozentpunkten Vorsprung gewann, dürfte gewaltig an seinem Selbstbild kratzen", sagt Meyer der DW. Außerdem zeige das enge Rennen noch einmal, dass der Unmut in der Bevölkerung über Erdogan und seine Regierung groß sei. "Wir werden sehen, welche Schlüsse er aus seiner abnehmenden Popularität zieht", so Meyer weiter.

In Sachen Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit erwartet Meyer keine Verbesserungen. Er hoffe nur, dass Erdogan in der neuen Amtszeit an sein politisches Vermächtnis denkt. Wenn er nicht wolle, dass er am Ende seiner Regierungszeit ein gespaltenes Land mit geschwächten Institutionen und galoppierender Inflation hinterlasse, müsse er sein Handeln überdenken, so Meyer.

Erdogan wird seine Nachfolge regeln

Ob er dies tut, ist fraglich. Meinungsforscher Uslu ist überzeugt, dass Erdogan sich auf jeden Fall um seine Nachfolge kümmern wird. Eine der Kernfragen dieser Amtszeit sei es, seine Partei auf eine Zeit nach ihm vorzubereiten.

Denn nach der türkischen Verfassung darf Erdogan nach dieser Amtszeit nicht noch ein weiteres Mal antreten. Auch gesundheitlich wirkt der 69-jährige angeschlagen. 

Doch Uslu hält es auch für denkbar, dass am Ende eine Verfassungsänderung dem "ewigen Präsidenten Erdogan" weitere Amtszeiten ermöglichen könnte.

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas