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Politik

Es geht um mehr als ein Ja oder Nein

Diego Cupolo
9. April 2017

Die Entscheidung polarisiert: Kurz vor dem Referendum über das Präsidialsystem in der Türkei bekommen die Wahlkämpfer auf der Straße den Frust der Bürger zu spüren. Diego Cupolo berichtet aus Ankara.

Türkei vor dem Referendum Evet Unterstützer in Ankara
Bild: DW/D. Cupolo

Mitten im Straßenlärm im Zentrum Ankaras ist es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wahlkampf-Busse parken auf verschiedenen Seiten des Kizilay-Platzes. Aus Lautsprechern schallen die Parolen. Passanten schlängeln sich durch Fähnchen schwingende Menschenmassen vorbei an Wahlkämpfern, die Broschüren verteilen.

Im dichten Fußgängerverkehr stehen Wahlkämpfer des gesamten politischen Spektrums Seite an Seite und versuchen, Wähler für das bevorstehende Referendum zu beeinflussen. In weniger als zwei Wochen entscheiden die Türken, ob sie dem Präsidentenamt - derzeit von Recep Tayyip Erdogan besetzt - mehr Macht geben.

Aktuelle Umfragen zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager. Die gegensätzlichen Visionen für die Zukunft des Landes werden häufig auf der Straße ausgelebt.

"Die Tatsache, dass wir ein enges Rennen haben, beweist, dass wir in der Türkei eine Demokratie haben", sagt Serhat Tugral: Er arbeitet in einem Zelt, in dem Rechtsexperten den Wählern die Verfassung erklären und ihnen Gründe nennen, warum sie mit Ja stimmen sollten - für das Präsidialsystem.

Eigentlich geht es um eine Verfassungsänderung, doch für die meisten ist es eine Wahl für oder gegen ErdoganBild: DW/D. Cupolo

"Wir brauchen einen starken Anführer für die Stabilität unseres Landes, besonders nach dem Putschversuch", sagt Tugral: "Wir müssen die Demokratie verteidigen." Er wird von einem älteren Nein-Wähler unterbrochen, der ihm zuvor aufmerksam zugehört hat.

"Ihr werdet alle in der Hölle brennen"

"Welche Demokratie?", ruft der Mann. "Ich will nicht dieselbe Rede von demselben Mann auf fünf verschiedenen Fernsehsendern hören. Ich will echte Demokratie. Ihr seid alle Lügner! Ihr Lügner werdet alle in der Hölle brennen!"

Der Wutausbruch bezieht sich auf die Berichterstattung zum Referendum. Unterstützer des Präsidialsystems haben erheblich mehr Sendezeit bekommen als die Gegner. Eine aktuelle Studie von TRT Haber, einem öffentlich-rechtlichen Sender, hat herausgefunden, dass Präsident Erdogan und Amtsträger der Regierungspartei AKP in den ersten drei März-Wochen 4113 Minuten Berichterstattungszeit bekommen haben. Im selben Zeitraum wurden Unterstützern der oppositionellen CHP nur 216 Minuten und der pro-kurdischen HDP sogart nur eine Minute Sendezeit eingeräumt.

Während seines Wutausbruchs weist der ältere Mann darauf hin, dass Jurastudenten aus dem Nein-Lager versucht hätten, ebenfalls ein Wahlkampfzelt an derselben Straßenecke aufzustellen. Dort wollten sie ihre Analysen zur Verfassung präsentieren. Ihnen sei jedoch die Genehmigung verweigert worden. Angesprochen auf die Einseitigkeit des Wahlkampfes sagt Ja-Kämpfer Tugral lediglich: "Unterdrückung liegt in der Natur des Wahlkampfes."

Beide Seiten unter Druck

Aber nicht nur das Nein-Lager fühlt sich im Vorfeld des Referendums schlecht behandelt. Einige Studenten, die für das neue Präsidialsystem sind, sorgen sich, ihre Meinung auf dem Campus offen zu sagen. Sie fürchten verächtliche Reaktionen ihrer Kommilitonen.

Die religiöse Bevölkerung der Türkei wurde lange vom säkularen System unterdrückt: Frauen mit Kopftuch durften nicht an Universitäten studieren oder im öffentlichen Dienst arbeiten. Erst kürzlich wurden diese Auflagen unter Erdogans Führung gelockert. Die Idee, dass eine breite muslimische Öffentlichkeit die säkulare Elite überwindet, spielt in den Köpfen vieler Wähler eine entscheidende Rolle.

Türkei-Referendum beginnt in Europa

01:43

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Wahlkämpfer des Ja-Lagers wie Omer Gurbuz werden täglich beleidigt, berichtet er. "Manchmal nehmen die Leute unsere Broschüren, zerreißen sie vor unseren Augen und werfen sie uns ins Gesicht", sagt Gurbuz: "Ich versuche, ruhig und respektvoll zu bleiben."

Die jüngsten Auftrittsverbote von AKP-Politikern in Europa haben offenbar dazu beigetragen, dass er und andere sich als Opfer einer Stimmung gegen Erdogan und für die Kurden sehen. Für Muhammet Fatih Sonmez, auch er Teil der Ja-Kampagne, ist klar, dass die Spannungen mit Europa die Wahlbeteiligung steigern werden.

"Die Krisen mit Deutschland und den Niederlanden sind gut, denn sie bringen Wähler von beiden Seiten an die Urnen", sagt Sonmez: "Politiker in der Türkei und in Europa profitieren davon, deshalb sehe ich darin kein Problem."

Unfaire Bedingungen für die Wahlkämpfer?

Ob Verbot oder nicht, Ayhan Rustaii von der oppositionellen CHP sagt, sie wünschte, ihre Partei hätte die finanziellen Möglichkeiten für einen Wahlkampf in Europa. Rustaii beklagt, dass die AKP einen unfairen Vorteil beim Mobilisieren von staatlichen Ressourcen für das Ja-Lager habe.

"Alles an ihrer Kampagne wird durch unsere Steuergelder unterstützt", sagt sie: "Sie schenken den Leuten Snacks und Getränke und verteilen Fahnen mit Ja-Slogans, während die CHP-Unterstützer alles kaufen müssen."

Unterstützer beider Lager fühlen sich als OpferBild: DW/D. Cupolo

Laut Rustaii bekommen die Verteiler von Flyern des Ja-Lagers Geld - eine Behauptung, die die AKP-Wahlkämpfer auf dem Kizilay-Platz allerdings zurückweisen -, während die Wahlkämpfer gegen das Präsidialsystem ehrenamtlich arbeiten.

Zudem gebe es kaum Angriffe auf die Ja-Kampagne. Nach Angaben der CHP wurden Gegner des Präsidialsystems hingegen 123 Mal zwischen Mitte Januar und Mitte März angegriffen.

Rustaii sagt, sie habe es geschafft, einige Wähler zu überzeugen, indem sie ihnen erklärt habe, was auf dem Spiel stehe. Allerdings habe sie festgestellt, dass viele "nicht für die Verfassung stimmen. Sie stimmen für Erdogan."

Die meisten Wahlkämpfer der Ja-Kampagne geben unklare Antworten auf die Frage, ob sie das Präsidialsystem auch unterstützen würden, wenn ein Oppositionspolitiker an der Macht wäre. Viele von ihnen sagen, das Land werde besser geführt und weniger Konflikte haben unter "einem Gehirn".

"Sie werden hier keine vernünftigen Menschen finden", sagt Mehmet, ein 23-jähriger CHP-Unterstützer, der seinen Nachnamen nicht nennen will: "Unser Land geht rückwärts. Sogar bei mir zuhause sind wir in drei Lager geteilt. Also ist es normal, dass die Menschen auf der Straße so polarisiert sind", sagt er: "Wir sind uns nur einig, wenn wir Fußball schauen."

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