Türkei: Europa-Zweiter bei Diabetes, Tendenz steigend
27. September 2025
In der Türkei ist die Häufigkeit von Diabetes in den vergangenen 20 Jahren um 67 Prozent gestiegen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belegt die Türkei innerhalb der WHO-Region Europa nach Usbekistan damit den zweiten Platz.
Nach den Daten lebt in der Türkei inzwischen rund jeder sechste Erwachsene mit Diabetes - und damit fast doppelt so viele Menschen wie im europäischen Schnitt, wobei Frauen etwas häufiger betroffen sind als Männer. Die Organisation registriert seit zwei Jahrzehnten einen klaren Aufwärtstrend: Anfang der 2000er Jahre war weniger als jeder zehnte Erwachsene betroffen. Besonders Menschen ab 30 Jahren tragen ein hohes Risiko, in dieser Altersgruppe hat inzwischen etwa jeder Fünfte die Krankheit. Zum Vergleich: In den meisten EU-Ländern sind die Werte deutlich niedriger - in Deutschland etwa ist jede fünfzehnte Person betroffen.
Kritik an der Gesundheitspolitik
Beobachter machen für diese negative Entwicklung vor allem die Politik verantwortlich. "Das größte Problem hinter dem Anstieg ist die Ernährungspolitik. Das Gesundheitsministerium wird hier seiner Verantwortung nicht gerecht", sagt Kayihan Pala, CHP-Abgeordneter und Experte für öffentliche Gesundheit. Er sieht die Ursachen weniger in genetischen Faktoren als in Lebensstil und Ernährung: Bewegungsmangel sowie der hohe Konsum von Kohlehydraten und verschiedenen Zuckern.
Laut einem OECD-Bericht von 2014 wussten rund 45 Prozent der Diabetiker nichts von ihrer Erkrankung. Millionen leben also ohne oder mit verspäteter Diagnose. Besonders auffällig ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen wegen unkontrollierter Diabetes. In der Türkei lag diese bei 402,6 pro 100.000 Einwohner. Das war das achteinhalbfache des OECD-Durchschnitts von 47,3.
Die jüngsten OECD-Zahlen von 2023 zeigen keine Besserung: Während die Türkei bei der Zahl der Diabeteserkrankungen weiterhin über dem Durchschnitt liegt, ist es beim Behandlungserfolg genau anders herum. Für den Gesundheitsexperten Pala zeigt sich darin das Versagen des Gesundheitssystems. Frühdiagnose, konsequente Kontrolle und der politische Wille zur Änderung des Lebensstils seien dringend nötig.
Haushaltsstudie: Unzureichende Behandlung
Eine Studie des türkischen Gesundheitsministeriums bestätigt die OECD-Befunde: Bei vielen diagnostizierten Patienten ist der Blutzucker nicht unter Kontrolle. Zudem variiert die Kontrolle je nach Alter, Geschlecht und Region. Vor allem Frauen und Menschen in einkommensschwachen Regionen sind benachteiligt. Diabetes ist somit nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales und wirtschaftliches Problem.
Laut Pala wird sich das ohne bessere ärztliche Betreuung und eine bessere Medikamentenversorgung in der Türkei nicht ändern: "Einige Patienten haben Schwierigkeiten, an ihre Medikamente zu kommen. Und nach der Diagnose ist die Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten oft schlecht."
Fettleibigkeit und wirkungslose Kampagnen
Der Kampf gegen die krankhafte Fettleibigkeit Adipositas ist für Pala der entscheidende Hebel im Kampf gegen Diabetes. Die türkischen Strategien seien jedoch unzureichend. Obwohl Fettleibigkeit zu den wichtigsten Risikofaktoren zähle, führten die Maßnahmen des Gesundheitsministeriums noch nicht zu nachhaltigen Lösungen.
Nun hat das Ministerium einen Aktionsplan für die kommenden drei Jahre vorgelegt, um gesunde Ernährung zu fördern, Kantinen in Schulen und Betrieben zu regulieren und körperliche Aktivität zu steigern. Im Rahmen der Kampagne "Erfahre dein Idealgewicht, lebe gesund" wurden 7,7 Millionen Menschen vermessen. Ergebnisse oder regionale Unterschiede bei den Adipositasfällen wurden jedoch nicht veröffentlicht.
Nach dem WHO-Bericht "Fettleibigkeit in Europa" von 2022 liegt die Türkei beim Anteil übergewichtiger und fettleibiger Menschen europaweit an der Spitze: 66,8 Prozent der Bevölkerung sind betroffen.
Debatte um stärkehaltige Zucker
Auslöser des Problems sind auch die in der Türkei geltenden Lebensmittelstandards: Die gesetzlichen Vorgaben für eine gesunde Ernährung reichen nicht aus und Werbung für ungesunde Lebensmittel wird nicht eingeschränkt.
Der Ernährungswissenschaftler Bülent Şık beschreibt das Problem im Gespräch mit der DW: "Der Anstieg des Konsums billiger, leicht verfügbarer Snacks und zuckerhaltiger Erfrischungsgetränke steht in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der Fettleibigkeit. Solange die Produktion dieser Produkte nicht eingeschränkt wird, bleiben viele Maßnahmen reine Symbolpolitik." Der Abgeordnete Pala macht zudem stärkebasierten Zucker für den Anstieg mitverantwortlich. "Es ist wissenschaftlich belegt, dass hoher Konsum von fructosereichem Maissirup die Häufigkeit von Typ-2-Diabetes erhöht. Auch Nicht-Adipöse erkranken häufiger, wenn sie diese Zucker konsumieren", warnt er.
Kinder und Schulmahlzeiten
Pala fordert einen grundlegenden Kurswechsel in der Diabetesbekämpfung der Türkei: "Wir brauchen wissenschaftlich fundierte, gesellschaftlich breit angelegte Programme für Ernährung, Prävention und den Kampf gegen Zucker und Adipositas. Mit bloßen Showprojekten kommen wir nicht weiter." Das Problem müsste man im Keim ersticken. Der Kampf gegen Diabetes müsse sich auch auf Kinder konzentrieren, betont Pala. Gesunde Ernährung im Kindesalter sei entscheidend. Er fordert kostenlose Schulmahlzeiten für alle Kinder: Diese seien eine der wirksamsten Maßnahmen gegen Adipositas und Diabetesrisiken.