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Femizide: Eine neue Gewaltwelle erschüttert die Türkei

15. Oktober 2024

Die Brutalität bei einer Reihe von Frauenmorden versetzt die Türkei ein weiteres Mal in Schock, Trauer und Wut. Aktivistinnen machen die Regierung für die Zunahme der Gewalt verantwortlich.

Eine Protestkundgebung in Istanbul nach den jüngsten Frauenmorden im Land. Eine Frau in der Mitte hält ein Plakat, auf dem steht: "Man tötet und die Justiz schützt den Täter"
Nach der jüngsten Gewaltwelle kam es, wie hier in Istanbul, vielerorts zu Demonstrationen. Auf dem Plakat in der Mitte steht: "Man tötet und die Justiz schützt den Täter"Bild: ANKA

Ein sonniger Herbsttag in Istanbul. Rund 300 junge Frauen haben sich im Stadtteil Kadiköy auf der anatolischen Seite am Bosporus versammelt, um gegen Gewalt an Frauen und Mädchen zu protestieren. Aufgerufen dazu hat nach einer Reihe brutaler Morde die Föderation Junger Feministinnen.   

Am 4. Oktober hatte ein 19-Jähriger in Istanbul zwei junge Frauen erstochen und enthauptet. Den zweiten Mord verübte er auf der Theodosianischen Mauer, einer bekannten Befestigungsanlage aus dem 5. Jahrhundert. Anschließend tötete er sich dort  selbst - vor den Augen vieler Passanten in der Millionenmetropole. 

Eine Woche zuvor war eine junge Polizistin bei einem Einsatz getötet worden. Im August hielt der Fall einer vermissten Schülerin das Land wochenlang in Atem, bis ihr lebloser Körper an einem Fluss in Südostanatolien gefunden wurde.

Vor allem die Föderation Junger Feministinnen ruft zu Protesten auf. "Wir wollen mehr Schutz von der Politik gegen Männergewalt", steht auf dem Transparent Bild: ANKA

In Fernsehkanälen laufen von morgens bis abends Sendungen über Gewalt gegen Frauen und Mädchen: In Straßenumfragen berichten junge Frauen von ihrer Angst; Eltern erzählen von der Panik, wenn ihre Töchter sich verspäten.  

"Gewalt gegen Frauen ist nicht neu, aber sie hat eine neue Dimension angenommen", sagt Esin Izel Uysal, Rechtsanwältin der Plattform "Wir werden die Frauenmorde stoppen". "Die Verbrechen werden brutaler und die Opfer und Täter jünger."

Die Gesellschaft diskutiert über die zunehmende Gewalt

295 Morde und 184 verdächtige Todesfälle hat die Plattform in den ersten neun Monaten dieses Jahres registriert. 2023 waren es 315 Frauenmorde und 248 verdächtige Todesfälle. Als verdächtig gelten beispielsweise Fälle, in denen Frauen aus dem Balkon oder Fenster stürzen oder ohne bekannten Grund angeblich Selbstmord begehen.

Laut Uysal nimmt Gewalt gegen Frauen zu, vor allem die Zahl der verdächtigen Todesfälle. Diese sei zwischen 2017 und 2023 um 82 Prozent gestiegen, erklärt sie im Gespräch mit der DW. Die Gewalt geschieht meistens zu Hause, immer öfter aber auch auf offener Straße. In den meisten Fällen sind die Täter Partner, Ex-Partner oder Familienmitglieder. 65 Prozent der Täter gaben dieses Jahr an, die Frauen getötet zu haben, weil diese sich trennen wollten oder weil sie eine Partnerschaft oder Ehe abgelehnt hätten. 

Junge Feministinnen machen das patriarchalische System, das die Gleichstellung von Mann und Frau verhindert, für die Gewalt verantwortlich. In Istanbul skandierten sie am vergangenen Samstag: "Das Problem ist das Patriarchat! Das Problem ist die Regierung!" Der Regierung werfen sie vor, mit ihrer islamisch-konservativen Familien- und Frauenpolitik eine Mitschuld an der Eskalation zu tragen.

Nicht nur regierungsnahe islamistische Bruderschaften, auch Parteien des Regierungsbündnisses des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan rufen immer wieder dazu auf, die vorhandenen Gesetze zum Schutz von Frauen abzuschaffen und Unterhaltszahlungen nach einer Scheidung zu befristen. 

Frauen demonstrieren gegen den Austritt aus der Istanbul-KonventionBild: Fatima Çelik/DW

Auf Druck dieser Gruppen trat 2021 die Türkei aus der  Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus. Den Schritt begründete Ankara damit, das Europarats-Übereinkommen fördere Homosexualität und bedrohe traditionelle Familienwerte.

Gesellschaft empört wegen Straflosigkeit

Staatspräsident Erdogan zufolge bietet die Gesetzeslage auch ohne Istanbul-Konvention genug Schutz für Frauen. Nach anhaltender Kritik kündigte er letzte Woche allerdings an, das Strafgesetz zu verschärfen. 

Viele Menschenrechtler halten das Strafgesetz für eigentlich ausreichend - das Problem liege in der Anwendung. Sie kritisieren die Regierung, den Fokus bei der Strafverfolgung in den vergangenen Jahren nur noch auf Oppositionelle gelegt zu haben, statt auf gefährliche Gewaltverbrecher.  

Tatsächlich nimmt die türkische Regierung insbesondere seit dem Putschversuch 2016 vor allem Kritiker ins Visier. Die Gefängnisse sind überfüllt mit politischen Häftlingen, die wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation oder wegen Terrorpropaganda verurteilt worden sind oder jahrelang ohne Prozess in Untersuchungshaft sitzen.

Um in den überbelegten Haftanstalten Platz zu schaffen, hat Ankara in den vergangenen Jahren das Vollstreckungsrecht mehrmals verändert. Viele Gewalttäter kommen unter Auflagen schnell frei. Während der Corona-Pandemie hat die Regierung fast 100.000 Häftlinge wegen der Infektionsgefahr entlassen - ausgenommen politische Gefangenen. Diese Praxis wird in der Gesellschaft als Straflosigkeit wahrgenommen.

So etwa im Fall eines Ex-Polizisten, der seine ehemalige Freundin entführt und tagelang gefoltert hatte. Schließlich ließ er sie mit der Drohung gehen, sie solle aufpassen - wenn er sie nicht haben könne, werde auch kein anderer sie bekommen.

Für sein Verbrechen wurde der 51-jährige zu zwei Jahren und sechs Monate Haft verurteilt. Nach nur zwei Monaten in einer offenen Anstalt kam er unter Auflagen frei - und er drohte der Frau Anfang dieses Jahres erneut. Die Frau postete einen Hilferuf in sozialen Medien. Der Täter erwirkte ein Verbot für die Verbreitung ihres Posts, weil dieser angeblich seine Persönlichkeitsrechte verletze.

Frauen in der Türkei fürchten um ihre Rechte

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Eine solche Straflosigkeit ermutige die Männer weiter zur Gewalt gegen Frauen, so die Frauenrechtlerin Uysal, "weil sie wissen, dass sie nach ein paar Tagen oder Monaten wieder auf freiem Fuß sind". 

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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