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Türkei - Kritiker wegen Desinformationsgesetz unter Druck

11. Dezember 2024

Vor zwei Jahren trat in der Türkei das sogenannte Desinformationsgesetz in Kraft. Seitdem geht die Justiz noch härter gegen Kritiker vor. Rund 4600 Ermittlungsverfahren wurden bisher eröffnet.

Der bekannte Gerichtsreporter Tolga Sardan bei seiner Verhaftung 2023 vor seiner Wohnung. Zwei Zivilpolizisten begleiten ihn zum Polizeiwagen.
Auch der bekannte Gerichtsreporter Tolga Sardan geriet ins Visier der Justiz, weil er angeblich Falschinformationen verbreitet hat. Bild: Alican Uludağ/DW

"Verehrtes türkisches Volk, äußerste Vorsicht und Wachsamkeit ist geboten. Die Regierung und die Wahlbehörde planen ein weiteres Mal, eure Stimmen zu stehlen." Mit diesen Worten kritisierte der türkische Bergsteiger Nasuh Mahruki den Plan der Regierung, die Stimmabgabe im Land in Zukunft zu digitalisieren. Kurz nach diesem Posting wurde der 56-Jährige am 20. November festgenommen und kam in Untersuchungshaft. In einem erstaunlichen Tempo wurde gegen den Gründer der renommierten zivilen Rettungsorganisation AKUT Anklage erhoben. Ende Dezember wird er in Istanbul vor Gericht stehen. Bis zu drei Jahre Haft drohen ihm.

Vorgeworfen wird Mahruki Beleidigung der türkischen Behörden, in seinem Fall der Wahlbehörde, und Verbreitung von offensichtlich falschen Informationen. Der zweite Vorwurf fällt unter das sogenannte Desinformationsgesetz, das am 18. November 2022 in Kraft trat und in der Bevölkerung auch als "Zensurgesetz" bekannt ist. Dieses sieht eine Haftstrafe zwischen einem und drei Jahren vor für die "Verbreitung von Fehlinformationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes, die öffentliche Ordnung und das Gesundheitswesen". 

Schon damals kritisierten Menschenrechtler und die Opposition die vagen Formulierungen des Gesetzes. Diese würden viel Raum für Interpretationen lassen, zu willkürlichen Strafverfolgungen und weiteren Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit führen. Nun sehen sie sich in ihrer Befürchtung bestätigt.

Nasuh Mahruki, Gründer der renommierten zivilen Rettungsorganisation AKUT steht vor Gericht. Ihm drohen bis zu drei Jahre HaftBild: Anka

4600 Ermittlungen und 33 Verhaftungen

Seit langem fordern Menschenrechtler die AKP-Regierung auf, Zahlen zur Strafverfolgung im Rahmen dieses Gesetzes vorzulegen. Vergeblich. Auch die Anfragen der Opposition blieben stets unbeantwortet. "Während einer Debatte über ein weiteres Zensurgesetz im Parlament kamen sie vor wenigen Wochen doch ans Licht", berichtet Veysel Ok, Rechtsanwalt und Co-Direktor des Vereins für Medien- und Rechtsstudien (MLSA). MLSA beobachtet und begleitet vor allem Prozesse gegen Journalisten, Menschenrechtler und Aktivisten.

Veysel Ok, Rechtsanwalt und Gründer des Menschenrechtsvereins MLSA Bild: Veysel Ok

Laut Parlamentsprotokollen haben die türkischen Behörden seit Einführung des Gesetzes bis Oktober 2024 Ermittlungen gegen 4590 Personen eingeleitet. 33 von ihnen wurden verhaftet. In 384 Fällen wurde eine Anklage erhoben. In 42 davon kam es zu einer Verurteilung. 146 endeten mit Freispruch. Fast die Hälfte aller Ermittlungen wurde eingestelltIn 31 Fällen wurde die Verkündung des Strafmaßes verschoben. Juristen zufolge ein weiteres Instrument, Kritiker einzuschüchtern.

Dieses "Zensurgesetz" komme nicht nur gegen Journalisten und Medienvertreter zum Einsatz, sagt Menschenrechtler Ok: "Auch ganz normale Bürger, die sich bei Naturkatastrophen, Krankheitswellen, Krisen oder anderen Ereignissen regierungskritisch äußern, geraten ins Visier der Justiz." Im Interview mit der DW zählt er ein paar Beispiele auf: "Der bekannte Soziologe Veli Sacilik ist wegen eines Postings über das Erdbeben zu zehn Monaten Haftstrafe verurteilt worden. Evren Baris Yavuz, ein Experte für politische Kommunikation, zu einem Jahr und 15 Tagen Haft. Der Mediziner Dr. Yusuf Eryazgan steht vor Gericht, weil er die Impfpolitik in Familienzentren kritisiert hat. Und das sind nur drei Beispiele von Tausenden."

Der Menschenrechtsverein MLSA hat mindestens 68 Ermittlungen gegen Medienvertreter registriert, die auf Basis des Desinformationsgesetzes zustande kamen. Im Bild ein Protest nach der Verhaftung eines Journalisten in AnkaraBild: Kıvanç El/DW

Ein Instrument zur Einschüchterung

Im türkischen Strafgesetzbuch gab es zuvor schon andere Gesetze, mit denen unerwünschte Kritik geahndet werden konnte. Dazu zählen Antiterror- und Internetgesetze oder eines, das die Beleidigung des Präsidenten unter Strafe stellt. Diese griffen aber nicht immer. Und vor allem Äußerungen im Netz sind der Regierung ein Dorn im Auge.

"Diese Lücke versucht die Regierung mit dem Desinformationsgesetz zu schließen", meint Ok. Jetzt sei eine sehr flexible Auslegung möglich. Das mache es einfacher, unerwünschte Meinungen zu unterdrücken. Die Regierung zeige damit, dass nur sie über die Verbreitung von Informationen entscheide.

68 Verfahren gegen 57 Journalisten

Seit Inkrafttreten des Desinformationsgesetzes hat MLSA mindestens 68 Ermittlungsverfahren gegen 57 Journalisten, Autoren und Medienschaffende erfasst. 22 mündeten in Prozessen. Die Mehrzahl endete jedoch nach willkürlichen Verzögerungen mit Freispruch. Die jüngsten Festnahmen und Freilassungen von Journalistinnen und Journalisten wie Nilay Can, Dincer Gökce, Ismail Saymaz, dem Kolumnisten Fatih Altayli und der Rechtsanwältin Irem Cicek müsse man hinzufügen, so Ok weiter. 

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Die Rechtsanwältin Gizay Dulkadir, die auch mehrere Journalisten vertritt, kritisiert zwei Praktiken in der Strafverfolgung: Erstens würden die Sicherheitsbehörden von sich aus aktiv. Gezielt werde nach Äußerungen von Kritikern im Netz gesucht, die als Straftat ausgelegt werden können, ohne dass zuvor eine Strafanzeige eingegangen sei. Zweitens würden die Staatsanwälte Ermittlungen auf Grundlage dieser gezielten Verfolgungen eröffnen. Beides sei rechtswidrig, so Dulkadir. Ihr zufolge gibt es entsprechende Urteile des türkischen Verfassungsgerichtes, die dieses Vorgehen der Ermittler für unzulässig erklären. Doch diese Urteile würden ignoriert.  

Der Fall von Firat Bulut weise auf diese gezielte Verfolgung und Willkür hin, berichtet MLSA. Demnach hat der Journalist über einen Aufstand im Gefängnis Elbistan nach dem Erdbeben im Februar 2023 berichtet. Die örtliche Staatsanwaltschaft habe gegen ihn Ermittlungen aufgenommen mit dem Vorwurf, Falschinformationen verbreitet zu haben. Schließlich kam ans Licht, dass im  besagten Gefängnis tatsächlich ein Aufstand stattgefunden hatte, mit dessen Untersuchung dieselbe Staatsanwaltschaft betraut war. "Dennoch wurde das Verfahren gegen den Journalisten Bulut nicht eingestellt. Ihm drohte eine mehrjährige Haftstrafe. Er musste die Türkei verlassen", erzählt Ok. 

Ob das gleiche Schicksal auch dem Bergsteiger Mahruki widerfährt, wird sich am 26. Dezember zeigen. Seine Argumente, er habe keine Informationen verbreitet, sondern ein Vorhaben der Regierung kommentiert und dies sei von der Meinungsfreiheit abgedeckt, überzeugte die Staatsanwaltschaft bisher nicht. Ein kleiner Sieg gelang ihm zumindest: Am vergangenen Donnertag wurde er bis zu seinem Prozess unter Auflagen frei gelassen

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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