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Politik

Türkei - Kurden: weit entfernt von Frieden

Tom Stevenson
13. Dezember 2016

Nach dem Doppel-Anschlag in Istanbul nehmen die Sicherheitsbehörden erneut hunderte kurdische Politiker fest. Tom Stevenson berichtet aus Istanbul.

Türkei das Büro der HDP in Istanbul nach der Durchsuchung der Polizei
Bild: HDP press office, Istanbul

Die türkischen Sicherheitsbehörden versuchten erst gar nicht, ihre Absicht zu verschleiern. Die Anti-Terror-Polizei drang in das Istanbuler Hauptquartier der pro-kurdischen Partei HDP ein, durchwühlte Schreibtische und Kisten mit Büchern. Die "Anti-Terror-Untersuchung", wie die Regierung die Aktion bezeichnete, hinterließ umgestürzte Möbel und Papier auf dem Boden. Auf die Wände hat jemand die Worte "Geldik Yoktunuz" ("Wir waren hier, aber ihr nicht") und "Yine Gelecegiz" ("Wir kommen wieder") gesprüht.

Nach Angaben der HDP wurden am Montag im ganzen Land mehr als 290 Parteimitglieder verhaftet, darunter auch der Provinzparteichef von Istanbul, Aysel Güzel. Die Operation war der jüngste Schlag in einer Kampagne gegen pro-kurdische Parlamentarier, Schriftsteller und gewählte Bürgermeister, die wegen des Vorwurfs mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sympathisieren, festgenommen wurden.

An diesem Dienstag wurden Haftbefehle gegen weitere acht Abgeordnete der HDP erlassen. Von den 59 Parlamentariern sind 49 entweder in Haft, werden von der Polizei gesucht oder gegen sie wird ermittelt.

44 Menschen starben bei dem Anschlag am Samstag Bild: Reuters/M. Sezer

Die Razzien fanden statt, nachdem die Gruppe "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) - eine Splittergruppe der PKK - die Verantwortung für den Anschlag auf einen Polizeibus vor dem Fußballstadion von Besiktas Istanbul am Samstag übernommen hatten. Dabei wurden 44 Menschen getötet, darunter sieben Zivilisten. In einer offiziellen Stellungnahme aus dem Edirne-Gefängnis bezeichnete HDP-Chef Selahattin Demirtas den Anschlag als "grausames Massaker".

"Wir verurteilen den Anschlag in den schärfsten Worten, aber Innenminister [Süleyman Soylu] ist auf Rache aus", sagt Hisyar Ozsoy, der stellvertretende HDP-Parteivorsitzende der DW.

Sündenbock HDP?

"Die Person, die für die Sicherheit aller Bürger der Türkei verantwortlich ist, ist der Innenminister. Wie viele solcher Anschläge gab es bereits?", fragt Ozsoy. "Wir haben vorgeschlagen, dass das Parlament eine unabhängige Kommission gründet, die die Anschläge untersucht. Denn es ist offensichtlich, dass die Verantwortlichen beim Schutz der Bevölkerung versagt haben. Der Innenminister versucht, von seinen eigenen Fehlern abzulenken und den Volkszorn auf die HDP zu lenken, er sucht einen Sündenbock." Die Regierung hingegen sagt, die Verhaftungen seien Teil von Anti-Terror-Ermittlungen.

"Es ist schon die ganze Zeit Polizei um das HDP-Gebäude, die Festnahmen sind keine Überraschung", sagt ein Bewohner des Istanbuler Stadtteils Tarlabasi, wo die Niederlassung der Partei in der Stadt liegt. Seinen Namen will er aus Sicherheitsgründen nicht sagen. "Sie sind eine kurdische Partei und es ist schon lange klar, seit letztem Jahr, dass die Regierung letztendlich etwas gegen sie unternehmen wird, vor allem wegen des Konflikts im Südosten und der ganzen Anschläge."

Diejenigen, die am Montag verhaftet wurden, seien hauptsächlich örtliche HDP-Funktionäre, sagt die Partei. Der Großteil der Parteiführung war bereits Anfang November festgenommen worden, darunter die Vorsitzenden Selahattin Dermirtas und Figen Yuksekdag sowie bekannte kurdische Politiker wie Sebahat Tuncel und Sirri Süreyya Önder. Önder wurde später auf Bewährung freigelassen.

"Wie die Mafia"

Die HDP reagierte auf die Festnahmen mit der Ankündigung, dass die Abgeordneten ihre Sitze im türkischen Parlament nicht länger einnehmen würden. Der Staat hat die Partei auch in ihrem Kernland ins Visier genommen, in den südöstlichen Provinzen mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung. Insgesamt 38 gewählte Bürgermeister wurden festgenommen und durch vom Innenministerium ernannte staatliche Verwaltern ersetzt.

Seit dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli gilt in der Türkei der Notstand. Die Polizei geht seitdem in großangelegten Operationen gegen Regierungsgegner vor, darunter die politischen Gruppen der Kurden sowie mutmaßliche Unterstützer des im Exil lebenden Predigers Fetullah Gülen, den die Türkei beschuldigt, Drahtzieher des Putsches zu sein.

"Der Staat verhält sich wie eine kriminelle Bande", sagt Ozsoy von der HDP. "Staaten handeln oft so, aber sie können Gewalt nur in den Grenzen der Gesetze anwenden. Jetzt gilt der Notstand und die Gesetze sind teilweise außer Kraft, also wendet der türkische Staat Gewalt nicht im Rahmen der Gesetze an. Es gibt keinen Unterschied zwischen seinen Methoden und denen der Mafia."

Nach HDP-Angaben sind rund 2500 Parteimitglieder bei Polizeiaktionen festgenommen worden. Zudem sitzen mehr als die Hälfte der Schwesterpartei der HDP, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) derzeit in Haft. "Der Staat beseitigt legitime Mittel der Bevölkerung, Unzufriedenheit und Forderungen zu äußern", sagt Ozsoy. "Sie reden schon gar nicht mehr vom Frieden."

HDP-Chef Selhattin Demirtas verurteilte aus der Haft den AnschlagBild: Reuters/O. Orsal

Keine Annäherung absehbar

Die Beziehungen zwischen den türkischen Kurden und der Regierung sind seit dem Ende eines Waffenstillstands zwischen der PKK und dem türkischen Staat im vergangenen Jahr und der darauffolgenden Offensive des türkischen Militärs im kurdischen Südosten des Landes wieder schwer belastet.

Mehmet Alkis, Experte für kurdische Politik im Mittleren Osten an der Mamara Universität Istanbul, ist wenig optimistisch, dass in naher Zukunft der politische Friedensprozess wieder aufgenommen wird. "Als der letzte Friedensprozess begann, fungierte die HDP als moderater Akteur zwischen dem Staat und der PKK. Das war ein Kanal für die Forderungen der Kurden in der formalen politischen Sphäre", sagt er der DW.

"Natürlich befindet sich die HDP in einer schwierigen Position, seit der Friedensprozess kollabiert ist und besonders nach dem Putschversuch im Juni. Innerhalb der HDP könnte sich langfristig eine Gruppe als Alternative für kurdische Politik herausbilden", sagt Alkis "Aber es ist unwahrscheinlich, dass es in nächster Zeit zu einer Rückkehr zum Friedensprozess in dieser Atmosphäre kommt."