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Soma-Prozess beginnt

Jacob Resneck / aa12. April 2015

Elf Monate nach dem schwersten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei stehen 45 Angeklagte vor Gericht. Doch die Angehörigen der Opfer werfen der Regierung vor, sie schone die tatsächlich Verantwortlichen.

Türkei Explosion in Bergwerk (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Bergarbeiter haben einen gefährlichen Beruf. Im vergangenen Jahr kamen in der Türkei mehr als 300 Kumpel bei verschiedenen Vorfällen ums Leben. Doch diese Unfälle riefen nicht nur Trauer und Wut im ganzen Land hervor. Sie führten auch dazu, dass Angehörige und Anwälte die Minen-Besitzer und Kontrolleure der Regierung mit schwierigen Fragen konfrontierten.

Der bei weitem folgenreichste Vorfall ereignete sich am 13. Mai 2014, als bei einer Explosion in einem Braunkohlebergwerk in der türkischen Provinz Manisa 301 Bergarbeiter ums Leben kamen. Ein weiterer tödlicher Vorfall folgte im Oktober: 18 Kumpel ertranken, als der Schacht zu ihrer Grube überflutet wurde.

Im Jahr 2014 ereigneten sich in der Türkei besonders viele Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang. Dem unabhängigen "Begleitausschuss für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in der Türkei" (ISIG) zufolge kamen im vergangenen Jahrzehnt 1886 Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben.

Doch trotz eines öffentlichen Aufschreis, der den Vorfällen in Soma und anderswo folgte, scheint sich die Situation laut einem im März veröffentlichten ISIG-Bericht nicht verbessert zu haben. "Mindestens 351 Arbeiter sind in den ersten drei Monaten dieses Jahres in der Türkei gestorben", sagt Asli Odman, ISIG-Mitglied und Dozentin an der Mimar-Sinan- Universität in Istanbul, gegenüber der DW. "Unfälle am Arbeitsplatz sind keine Ausnahme, sondern die Regel – sogar eine direkte Folge der Arbeitsbedingungen in der oberflächlich blühenden türkischen Wirtschaft."

Rettungsarbeiten nach dem Unglück im Bergwerk SomaBild: AFP/Getty Images

Regierung unter Druck

Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP sieht sich nun einem starken Druck ausgesetzt, die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern. Die Partei kam 2002 an Macht - mit dem Versprechen, die religiöse Unterschicht der Türkei zu fördern, die traditionell von der säkularen Elite des Landes an den Rand gedrängt worden war.

Die Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang bestrafen nun diesen Kreis von Wählern, für den sich die AKP lange eingesetzt hat. Mit Blick auf die anstehende Parlamentswahl im Juni kann die Partei die Tragödie in Soma aber nicht ignorieren. Der türkische Staatschef versprach, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

“So Gott will, wird jeder die nötigen Lehren aus dieser Katastrophe ziehen”, sagte der damalige Premierminister und heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem Vorfall in Soma. Vorher hatte er mit seiner Vermutung Wut ausgelöst, der Tod der Bergarbeiter sei die Folge einer Naturkatastrophe. "Niemand wird diesen schmerzhaften Vorfall verschleiern. Die nötigen Ermittlungen werden durchgeführt, und wir werden sie streng überwachen", fügte Erdogan hinzu.

Vor diesem Hintergrund müssen sich nun 45 Menschen, zu denen auch der Chef des Unternehmens, seine Manager und Techniker gehören, am Montag (13.04.2015) in der Stadt Akhisar vor Gericht verantworten - wegen fahrlässiger Tötung von 301 Bergarbeitern. Wegen Sicherheitsbedenken werden lediglich acht Angeklagte anwesend sein; die übrigen müssen live per Video-Konferenz aussagen.

Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass weder staatliche Kontrolleure noch Politiker zu den Angeklagten gehören. Sie hatten dem Bergwerk in Soma volle Funktionstüchtigkeit attestiert – ein Indiz für mangelnde staatliche Kontrolle, meinen die Menschenrechtler. Kamil Kartal von der "Social Rights Association of Soma" berichtete der DW, dass die Staatsanwälte daran gehindert würden, diejenigen zu untersuchen, "die echte Verantwortung tragen – wie es auch von den Experten-Berichten bestätigt wird". Kartal fügt hinzu, dass "die zuständigen Minister nie die nötige Erlaubnis gegeben haben, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen".

Trauer an den Gräbern: Beerdigungen der Opfer von SomaBild: BULENT KILIC/AFP/Getty Images

Das liegt daran, dass die Minister auf ein umstrittenes Gesetz verweisen, in dem es heißt, dass die Staatsanwälte eine behördliche Erlaubnis brauchen, um Staatsbeamte zu vernehmen. Internationalen Aktivisten zufolge entspricht das nicht den modernen demokratischen Standards.

"Es ist zutiefst beunruhigend, dass die Regierung Ermittlungen zu kriminellen Machenschaften von Staatsbeamten blockieren kann, indem es ein altes Gesetz zu behördlicher Erlaubnis heranzieht”, sagt Emaa Sinclair-Webb von Human Rights Watch. "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit Bedenken geäußert, dass dieses Gesetz dazu beiträgt, dass Verbrechen von öffentlichen Amtsträgern ungestraft bleiben, und die Türkei aufgefordert, es abzuschaffen."

Erdogan besucht den Unglücksort Soma im Mai 2014Bild: Reuters

"Expertenberichte werden ignoriert"

Die politische Opposition in der Türkei bemängelt, dass keine der Empfehlungen aus einem Experten-Bericht über Soma implementiert wurde. Sie warnt davor, dass künftige Todesfälle progammiert seien. Zu den Empfehlungen gehören die Bildung eines Bergbau-Ministeriums, die Aktualisierung von Gesundheits- und Sicherheitsregularien für Kohle-Gruben, die Kontrolle des Methangas-Niveaus und höhere Strafen - auch Haftstrafen - für Angestellte, die Entscheidungen einer Schließung ignorieren und Bergarbeiter in Schächte schicken, die nach Anraten von Inspektoren geschlossen werden sollten.

"Was werden diejenigen, die die Berichte ignorieren, den Leuten sagen, wenn die nächste Katastrophe passiert?", fragt Özgür Özel, Abgeordneter der Oppositionspartei CHP, in der Zeitung Hurriyet Daily News. Die CHP habe in den vergangenen fünf Jahren immer wieder die Sicherheitsprobleme in Gruben angesprochen. "Wären die Empfehlungen aus dem Bericht des parlamentarischen Untersuchungskomitees 2010 beachtet worden, wäre die Katastrophe in Soma nie passiert", sagt er.

Der offizielle Bericht des Parlaments unter der Leitung von Ali Riz Alaboyun, einem Abgeordneten der Regierungspartei AKP, kommt zu dem Schluss, dass das Desaster das Ergebnis von gravierender Vernachlässigung und nicht tragisches Schicksal gewesen sei, wie der damalige Premierminister suggeriert hatte.

Das zeigt, dass die türkische Regierung realisiert hat, dass sie das Thema nicht wegwischen kann - vor allem mit Blick auf die Parlamentswahl. Das wissen auch die Wahlkämpfer. "Wenn dieser kriminelle Fall am Vorabend der Wahl massive Unterstützung aus der Gesellschaft bekommen kann, könnte die Regierungspartei massiv an Stimmen verlieren - weil dieser Prozess politisiert wurde”, sagt Kartal.

Während der Jahrestag der Soma-Katastrophe näher rückt, organisieren Aktivisten Mahnwachen, um weiteren Druck zu erzeugen - und vernetzen sich auf Twitter, das in der Türkei enorm bliebt ist. Die Solidaritäts- und Forschungsgruppe Soma an der Bogazici-Universität ist eine spontaner Zusammenschluss von Studenten und Dozenten, die regelmäßig nach Soma gereist sind, um die Familien der Opfer zu treffen und ihre Sorgen anzuhören.

Proteste gegen Erdogans Regierung in IstanbulBild: picture-alliance/AA

"Unser Hauptziel war, zu verstehen, was wirklich geschehen ist. Wir wollten wissen, wie die Arbeitsbedingungen in der Grube waren, wie Leute Bergarbeiter werden", sagt Fethiye Erbil, Mitglied einer Gruppe, die Fremdsprachen an der Istanbul-Universität unterrichtet, gegenüber der DW. Ihre Gruppe macht "die Vernachlässigung durch die Regierung, Ministerien, das Unternehmen und die erfolgshungrige Politik" verantwortlich, die so viel Kohle wie möglich in der kürzesten Zeit gewinnen wolle.

Mobilisierung über Twitter

Die Gruppe hat eine Twitter-Kampagne ins Leben gerufen: #SomayıUnutmaUnutturma (#DontForgetSoma), um Menschen in im ganzen Land für geplante Straßenaktionen zu mobilisieren und an die Misere der Bergarbeiter-Familien zu erinnern.

"Wir wollten die Stimme der Menschen werden, die zurückgelassen werden", sagt Erbil.

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