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Politik

(K)eine Frage der Integration?

18. April 2017

Gut 400.000 Deutsch-Türken haben für die Verfassungsreform in der Türkei gestimmt - warum? Verweigern sie sich der Integration? Hat Integration überhaupt etwas mit dem Referendum zu tun? Auf der Suche nach Antworten.

Türkei Referendum Präsident Erdogan
Bild: Reuters/M. Sezer

"Die sind zu dumm für Demokratie!" So oder so ähnlich lesen sich viele Kommentare auf Twitter und Facebook zum Ausgang des türkischen Referendums. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Türken am vergangenen Sonntag über die von ihm geplante Verfassungsreform abstimmen lassen. Das Ergebnis: 51,4 Prozent der Abstimmungsteilnehmer sagten "Ja".

Die Empörung in den sozialen Netzen ist groß. Wer mit "Ja" gestimmt hat, habe das Recht verloren, in einer Demokratie zu leben, heißt es beispielsweise. Neben mutmaßlichen oder tatsächlichen türkischen Integrationsverweigerern wird auch die deutsche Integrationspolitik an den Pranger gestellt, die Verantwortung wird hin- und hergeschoben. Die Emotionen entladen sich immer wieder in Beleidigungen und absurden Forderungen nach "Massenabschiebungen in die Türkei". Zeit, ein paar Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen - mit kühlem Kopf.

Wovon reden wir überhaupt? - Ein paar Zahlen

  • In Deutschland leben rund 2,9 Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Davon sind etwa 1,4 Millionen wahlberechtigt.
  • Von den 1,4 Millionen Stimmberechtigten ist knapp die Hälfte zur Wahl gegangen, also fast 700.000 Menschen.
  • Von denen haben wiederum etwa 63 Prozent mit "Ja" gestimmt. Das ergibt in absoluten Zahlen weniger als 450.000 Ja-Sager.

"Am Gesamtergebnis haben die Ja-Stimmen aus Deutschland einen Anteil von etwa 0,2 Prozentpunkten", sagt Yunus Ulusoy, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung "Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung" in Essen.

Wer sind die Ja-Sager?

"Männer, vor allem ältere Männer", glaubt der Soziologe Detlef Pollack von der Universität Münster - Männer, die in Erdogan jemanden sehen, der sich nicht vom Westen belehren lässt. Pollack erforscht die Integration türkischstämmiger Menschen in Deutschland. Das Referendum sei für viele, die mit "Ja" gestimmt haben, keine Frage des politischen Pragmatismus gewesen. "Der politische Inhalt wurde für viele Wähler überschattet von dem Konflikt zwischen der EU und der Türkei, zwischen einer mehrheitlich muslimischen und einer christlichen Gesellschaft." Das "Ja" sei vor allem ein Ja zum Nationalstolz, zur türkischen Identität und Nationalität gewesen. 

Wer sind die Nichtwähler?

"Menschen, die sich nicht für die Politik in der Türkei interessieren oder die hasserfüllte Rhetorik der letzten Monate leid sind", meint Ulusoy. In erster Linie seien das junge Menschen. Desinteresse an der türkischen Politik? "Nein, das glaube ich nicht", sagt der Soziologe Pollack. Er vermutet, dass die Nichtwähler hin- und hergerissen gewesen seien und nicht gewusst hätten, was sie tun sollten. "Immerhin wurde in den Wahlkampagnen ziemlich viel Druck ausgeübt." Pollack hätte es deshalb auch nicht gewundert, wenn viel mehr Menschen mit "Ja" gestimmt hätten. 

Sind die Ja-Sager also besonders schlecht integriert?

"Nein", betont Ulusoy, jedenfalls nicht vorrangig, das wäre viel zu einfach gedacht. Er spricht von einer starken emotionalen Bindung vieler Deutsch-Türken an das türkische Heimatland. "Viele Menschen haben ihre politische Verortung mit nach Deutschland genommen. Da viele als Gastarbeiter aus ärmeren Regionen in der Türkei hierher gekommen sind, bedeutet das eben häufig, dass sie konservativ und religiös wählen." Der wichtigste Grund sei aber Erdogan selbst, meint Ulusoy. Während die Türkeistämmigen in Deutschland vor allem dann in den Fokus rücken, wenn ihr Integrationswille und ihre Integrationsfähigkeit - so wie jetzt - auf dem Prüfstand stehen, spreche Erdogan diese Menschen positiv an. Detlef Pollack sieht die Ja-Sager deshalb vor allem als Protestwähler, die ein Signal Richtung Westen senden wollten: "Nehmt uns ernst und geht nicht an unseren Bedürfnissen vorbei."

Über 400.000 Menschen haben für ein autoritäres politisches System in der Türkei gestimmt. Ganz zu begreifen ist das vermutlich nicht. "Man sollte allerdings nicht vergessen, dass viele Deutsch-Türken Erdogan eben auch nicht gefolgt sind, trotz seiner Kampagnen, der Einschüchterungen und der Hetze! Wir sollten auch an diese Menschen denken", sagt der Soziologe Pollack. Es handelt sich dabei um die Mehrheit der wahlberechtigten Türken in Deutschland.

Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.
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