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Politik

Religiöse Schulen auf dem Vormarsch

28. September 2018

In der Türkei werden immer mehr staatliche Schulen zu religiösen Schulen umfunktioniert. Viele Eltern betroffener Schüler fühlen sich darüber nur unzureichend informiert. Das bringt sie zunehmend in Rage.

Kazim Karabekir Imam-Hatip-Schule für Mädchen in Istanbul, Türkei
Bild: ullstein bild - Reuters/MURAD SEZER

"Eines Tages fragte mich mein Kind: Warum sitzen die Schüler in den anderen Klassen anders als wir? Warum sind dort die Jungen und Mädchen voneinander getrennt? Ich konnte ihm keine Antwort geben."

Battal Gülmez schickte seine beiden Kinder auf die Ismail-Tarman-Mittelschule im liberalen Istanbuler Stadtteil Besiktas. Seit zwei Jahren ist die Schule geteilt: In einem Teil befindet sich die ursprüngliche, staatliche Schule, im anderen die religiöse, sogenannte "Imam Hatip"-Schule. Gülmez' erstes Kind machte den Abschluss noch vor der Teilung. Sein zweites Kind aber meldete er kurz nach der Teilung ab. Es besucht jetzt eine andere, drei Kilometer weiter entfernte Einrichtung. Erst durch die irritierten Nachfragen seines Kindes hatte Gülmez überhaupt von der Einrichtung des religiösen Zweiges erfahren.

Auf dem Schild vor der Schule stehen nun zwei Namen: "Ismail Tarman Imam Hatip Mittelschule" und "Ismail Tarman Mittelschule". Es gibt zwei unterschiedliche Curricula, die Schulleitung aber ist dieselbe. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist Absolvent einer dieser "Imam Hatip"-Schulen, die neben dem regulären Pensum zusätzliche Islam-bezogene Unterrichtsfächer vorsehen. Die religiösen Vorschriften wirken sich auch auf den Schulalltag aus: Jungen und Mädchen sitzen getrennt voneinander. Die Mädchen tragen Kopftücher.

Von den Plänen der Ismail-Tarman-Schule, einen religiösen Zweig zu eröffnen, wurden auch andere Eltern erst im Nachhinein unterrichtet. Einige Lehrer, die sich weigerten, im religiösen Zweig der Schule zu unterrichten, haben inzwischen gekündigt.

Aus eins mach zwei: Die Istanbuler "Ismail Tarman Mittelschule" ist nun halb säkular und halb religiös.Bild: DW/B. Karakaş

Schleichende Umwandlung

Seitdem immer mehr staatliche Schulen in sogenannte "Imam Hatip"-Schulen umgewandelt werden, hat die Zahl der religiösen Schulen immer stärker zugenommen. Einem Bericht der Gewerkschaft Egitim-Sen zufolge stieg sie in den vergangenen fünf Jahren von 1100 auf knapp 3.300. Mittlerweile besuchen in der gesamten Türkei mehr als 1,3 Millionen Kinder eine religiöse Schule.

Viele Eltern aber ärgern sich darüber, dass sie über die Umwandlung der Schulen weitestgehend im Unklaren gelassen werden. Aus diesem Grund halten verärgerte Eltern etwa vor der "Ismail Tarman"-Mittelschule tägliche Mahnwachen ab. Seit fast zweieinhalb Jahren, seit dem 30. Mai 2016, protestieren sie vor der Schule dagegen, dass die 1.000 Schüler umfassende Schule, die einzige des gesamten Stadtviertels, in eine religiöse Schule umfunktioniert wurde.

Einer dieser Demonstranten ist Ugur Şahin. Seit dem ersten Tag ist er dabei. Sein Kind ist 13 und besucht den staatlichen Zweig. "Als wir von der Umstrukturierung erfuhren, wollten wir mit dem Direktor reden, der aber lehnte das ab. Wir sprachen mit Zuständigen des Bildungsministeriums - sie bestätigten das Gerücht. Mich stört es, dass mein Kind auf eine Schule geht, die zur Hälfte religiös ist," so Sahin. Die Eltern haben sich mit ihrer Beschwerde schon ans Gericht gewandt, diese wurde jedoch abgewiesen.

Überfüllte Schulen vs. leere Hallen

İlknur Kaya Bahadır ist Mitglied beim türkischen Schüler- und Elternverein (Veli-Der). Eltern, die eine säkulare Schulbildung für ihre Kinder anstrebten, hätten es zunehmend schwer, erzählt sie. "An manchen Schulen kommen gar keine säkularen Klassen mehr zustande. Vielerorts sammeln Eltern sogar Unterschriften gegen die Einrichtung religiöser Schulen, aber das wird ignoriert." Einige säkulare Schulen seien mittlerweile überfüllt, erzählt Bahadır. "Auf der anderen Seite aber findet der Unterricht in den religiösen Schulen oder Berufsschulen in riesigen leeren Schulgebäuden statt, weil es nicht genügend Nachfrage gibt."

Eine normale Mittelschule aus der Türkei Bild: picture-alliance/Joker

Einem vergangene Woche veröffentlichten Bericht des Imam-Hatip-Vereins ÖNDER zufolge hätten "Hass und Diskriminierung in den Medien" gegenüber Absolventen religiöser Schulen zugenommen. Halit Bekiroğlu ist Vorsitzender des Vereins. Die "Imam Hatip"-Schulen seien Bildungseinrichtungen, der Diskurs über sie sei aber immer ein politischer, kritisiert er gegenüber der DW. "Die Imam Hatip-Schulen unterrichten ihre Schüler nicht nur in religiösen Fächern, ihre Absolventen besuchen zudem die besten Universitäten der Türkei", so Bekiroğlu. Und doch sei von Beginn an eine ideologische Diskussion um die religiösen Schulen geführt worden.

Religiöse Schüler wider Willen?

Offiziellen Angaben zufolge stehen 35 Prozent des aktuellen Bildungsetats der Türkei den religiösen Schulen zu. Enver Önder ist Vorsitzender des Solidaritätsvereins Schüler und Eltern (ÖV-DER). Natürlich müsse der Staat, wenn die Nachfrage bestehe, religiöse Schulen eröffnen, damit die Eltern ihre Kinder dorthin schicken können, sagt er. „Aber wir sind dagegen, dass die Zahl der neuen Schulen weit über dem nachgefragten Bedarf liegt," sagt er. "Und wir sind dagegen, dass Schüler gegen den Willen ihrer Eltern eine religiöse Schule besuchen müssen - einfach, weil ihnen die säkulare Alternative fehlt."

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