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GesellschaftEuropa

Warum die Türken immer dicker werden

Pelin Ünker | Burak Ünveren
27. Mai 2025

Übergewicht ist in der Türkei auf dem Vormarsch. Experten diskutieren die Gründe der dramatischen Entwicklung bei der Adipositas und was das mit Armut, Pestiziden und ungesunder Ernährung zu tun hat.

Ein übergewichtiger Mann sitzt auf einer Bank und isst
Zahlreiche Menschen in der Türkei sind von Fettleibigkeit betroffen - im europäischen Vergleich liegt das Land an der SpitzeBild: Dominic Lipinski/PA Wire/picture alliance

Weltweit gibt es inzwischen mehr als eine Milliarde fettleibige Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer "Adipositas-Epidemie". Laut dem Bericht der WHO zur Fettleibigkeit in Europa aus dem Jahr 2022 ist die Türkei führend in Sachen Übergewicht und Fettleibigkeit: Das Land liegt mit 66,8 Prozent im europaweiten Vergleich an der Spitze. Außerdem gehört die Türkei zu den OECD-Staaten mit der schnellsten Zunahme von Fettleibigkeit - und steht da sogar an erster Stelle. Für 2030 wird erwartet, dass 27 Millionen Menschen in der Türkei fettleibig sein werden. Damit wäre dann fast jede dritte Person betroffen.

Gründe für diese dramatische Entwicklung sehen Gesundheits- und Gesellschaftsexperten in unzureichender Ernährung, sozialer Ungleichheit, einer ungesunden Lebensmittelversorgung und fehlender gesellschaftspolitischer Strategien. Studien zufolge leidet in der Türkei jedes fünfte Kind an Mangelernährung, wovon zehn bis 15 Prozent auf Übergewicht und Fettleibigkeit zurückzuführen sind. Das mutet zunächst paradox an, liegt aber unter anderem daran, dass das Fettgewebe bei Übergewichtigen die Aufnahme und Verwertung von Nährstoffen beeinträchtigen kann. 

Traditionelles türkisches Brot gilt in der Türkei als das meistverzehrte LebensmittelBild: Adem Alta/AFP

"Das Problem heißt Armut"

Die Türkei leidet seit Jahren unter einer hohen Lebensmittelinflation, was wiederum die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger negativ beeinflusst. Soziologin Hacer Foggo macht deutlich: Die wachsende Zahl übergewichtiger Kinder ist vor allem auf extreme Armut zurückzuführen. "Mangelernährung führt einerseits zu Wachstumsstörungen, andererseits zu Fettleibigkeit. In Europa stehen wir bei diesem Problem an erster Stelle, weil die Ernährung sehr einseitig ist", sagt sie. Sie verweist auf einen Bericht der türkischen Statistikbehörde TÜIK aus dem Jahr 2022, laut dem 62,4 Prozent der Kinder sich hauptsächlich von Brot und Nudeln ernähren. Diese alarmierenden Daten seien bisher nicht ausreichend ernst genommen worden.

Lebensmittelwissenschaftler Bülent Şık sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Zunahme kindlicher Fettleibigkeit und dem weit verbreiteten Konsum stark verarbeiteter Lebensmittel mit niedrigem Nährwert und hohem Zuckergehalt.

"Der Anstieg des Konsums billiger, leicht verfügbarer Snacks und zuckerhaltiger Erfrischungsgetränke steht in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der Fettleibigkeit", so Şık. Solange die Produktion dieser Produkte nicht eingeschränkt wird, bleiben viele Maßnahmen reine Symbolpolitik.

Şık warnt zudem vor einer weiteren Gefahrenquelle: dem Einsatz toxischer Chemikalien in der Lebensmittelproduktion - wie Pestiziden und bestimmten Zusatzstoffen, die mit hormonellen Störungen und Gewichtszunahme in Verbindung gebracht werden. "Einige dieser toxischen Substanzen wirken sich negativ auf das Hormonsystem aus, was insbesondere für Kinder im Wachstum eine ernsthafte Bedrohung darstellt", erklärt Şık.

Er verweist auf eine Studie von Greenpeace Türkei, wonach ein Drittel der untersuchten Lebensmittel Pestizide enthielt, die das Hormonsystem schädigen, die neurologische Entwicklung beeinträchtigen oder sogar krebserregend sein können. Trotzdem konzentrieren sich staatliche Kontrollmechanismen von Lebensmitteln vor allem auf Kalorienangaben.

Das Gesundheitsministerium ist alarmiert

Das türkische Gesundheitsministerium hat im Rahmen eines neuen Programms zur Bekämpfung von Fettleibigkeit angekündigt, in belebten Stadtzentren, öffentlichen Räumen und an Veranstaltungsorten Körpergröße, Gewicht und Body-Mass-Index (BMI) der Bevölkerung zu messen. Ziel ist es, übergewichtige Menschen zu identifizieren und sie an Gesundheitszentren oder Hausarztpraxen weiterzuleiten, wo sie von Ernährungsberatern betreut und begleitet werden sollen. Innerhalb von zwei Monaten will das Ministerium so zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger erreichen, um über die Gefahren von Übergewicht aufzuklären und eine gesunde Lebensweise zu fördern.

Mitarbeitende des Gesundheitsministeriums beraten Bürgerinnen und Bürger - sie sollen beim Abnehmen und gesund Leben unterstützt werdenBild: Eren Bozkurt/Anadolu/picture alliance

Strukturelle Mängel im Lebensmittelsystem

Experten beklagen, dass der Staat nicht genügend gesetzliche Vorgaben für eine gesunde Ernährung macht und Werbung für ungesunde Lebensmittel nicht einschränkt. Die fehlenden Maßnahmen tragen dazu bei, dass Kinder und arme Bevölkerungsgruppen besonders gefährdet sind. "Es liegt in der Verantwortung der politischen Entscheidungsträger, Lösungen zu schaffen", so Şık.

Gesunde und frische Lebensmittel sind zudem oft teurer und für einkommensschwache Familien kaum erschwinglich. Dadurch entsteht eine soziale Schieflage, die bei Kindern zu Fettleibigkeit, Wachstumsstörungen und Eisenmangel führen kann.

Şık und Foggo betonen daher die Notwendigkeit eines kostenlosen Schulernährungsprogramms. Foggo kritisiert, dass ein solches Programm trotz wiederholter Forderungen bislang nicht umgesetzt wurde. "In den Protokollen des Parlaments ist nachzulesen, dass das Gesundheitsministerium das Problem erkannt hat und die Lösung in Schulmahlzeiten sieht - doch es wurde kein einziger Schritt unternommen", sagt sie.

Außerdem gibt es in der Türkei einen Fachkräftemangel in diesem Bereich: Die Gewerkschaft Birlik Sağlık Sen hält die Zahl der Diätassistenten, die Bürger und Bürgerinnen in Ernährungsfragen beraten können, für unzureichend. In den vergangenen fünf Jahren sei ihre Zahl in staatlichen Krankenhäusern um fast 20 Prozent zurückgegangen.

Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.
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