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Politik

Türkei startet Bodenoffensive in Syrien

9. Oktober 2019

Die Türkei hat nach Luftangriffen gegen kurdische Milizen in Nordsyrien nun auch eine Offensive mit Bodentruppen begonnen. Der Einsatz stößt international auf scharfe Kritik: Es drohe ein Wiedererstarken des IS.

Ein türkischer Panzer auf dem Weg über die syrische Grenze
Ein türkischer Panzer auf dem Weg über die syrische GrenzeBild: Getty Images/B. Kara

Die Türkei ist mit Truppen nach Nordsyrien eingedrungen. Die türkische Armee habe mit Unterstützung syrischer Milizen eine Bodenoffensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) begonnen, teilte das Verteidigungsministerium in Ankara mit. Ein Sprecher einer der beteiligten syrischen Rebellengruppen sagte, der Angriff habe in der syrischen Grenzstadt Tall Abjad begonnen. Türkische Medien meldeten, die Armee sei an mindestens drei Punkten über die Grenze vorgedrungen.

Zuvor hatten Luftangriffe und Artilleriefeuer die Militäroffensive eingeleitet. Recep Tayyip Erdogan schrieb auf Twitter: "Unser Ziel ist, den Terrorkorridor, den man an unserer südlichen Grenze aufbauen will, zu zerstören und Frieden und Ruhe in die Region zu bringen." Die Türkei sieht in der kurdischen YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert, einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Erdogan sagte am Donnerstag am zweiten Tag der Offensive seien 109 "Terroristen" getötet worden.

Die Luftangriffe schienen sich zunächst vor allem gegen zwei, etwa 120 Kilometer voneinander entfernt liegende Orte und deren Umland zu richten: Tall Abjad und Ras al-Ain.

Am Abend gab es Berichte über erste Opfer. In den ersten Stunden nach Beginn des türkischen Angriffs seien mindestens 15 Menschen getötet worden, darunter acht Zivilisten, sagten Aktivisten. Unter den zivilen Opfern seien auch zwei Kinder, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Bei den anderen Toten handele es sich um Kämpfer der von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die Menschenrechtler berichteten zudem von mehr als 40 Verletzten, darunter 13 Zivilisten.

In der Nacht setzte das türkische Militär seine Offensive fort. In einem Tweet des Verteidigungsministeriums in Ankara vom frühen Donnerstagmorgen hieß es, "die heldenhaften Soldaten" rückten mit der "Operation Friedensquelle" im Osten des Flusses Euphrat weiter vor. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete: "Die türkischen Truppen und ihre Alliierten haben es nicht geschafft, über Nacht in eine Stadt nahe der Grenze zur Türkei einzudringen." 

Derzeit würden die Außenbezirke des Ortes Tall Abjad beschossen, es ist ein Einfallstor der Offensive. Bewohner der Stadt sagten der Deutschen Presse-Agentur, dass einige Zivilisten von den kurdischen Kämpfern an der Flucht aus der Stadt gehindert worden seien. "Sie (die Kurden) wollen sie als menschliche Schilde benutzen", sagte ein Bewohner, der namentlich nicht genannt werden wollte.

Die von der Kurdenmiliz YPG angeführten SDF meldeten am frühen Donnerstagmorgen, dass sie einen Angriff "türkischer Truppen und ihrer Alliierter" auf die Stadt Ain Issa zurückgeschlagen hätten. Die liegt rund 35 Kilometer von Tall Abjad entfernt. Das türkische Militär wird unterstützt von syrischen Rebellen. Die SDF gab an, es habe unter den Gegnern Opfer gegeben. Ain Issa stehe weiter unter Beschuss.

Tausende auf der Flucht

Tausende Zivilisten seien aus Ras al-Ain geflohen, hieß es weiter. Ein AFP-Reporter sah dutzende Einwohner, die mit ihrem Gepäck zu Fuß, auf Motorrädern und in Autos die Stadt verließen. Amnesty International forderte sichere Fluchtmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung.

Nach türkischen Luftangriffen steigt über Ras al-Ain Rauch aufBild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Die Regierung des syrischen Machthabers Baschar al-Assad kündigte an, sich gegen einen türkischen Einmarsch zur Wehr zu setzen. Zugleich rief sie die kurdische Minderheit auf, sich wieder unter ihre Autorität zu begeben. Die Kurden haben seit 2012 mit stillschweigender Duldung Assads eigene Institutionen aufgebaut. Doch will die Regierung inzwischen die Kurdengebiete wieder komplett unter ihre Kontrolle bringen.

Die syrischen Kurden hatten am Mittwochmorgen eine Generalmobilmachung ihrer Truppen verkündet. Alle seien aufgerufen, sich an die Grenze zu begeben, um in diesen "kritischen historischen Momenten" Widerstand zu leisten, hieß es in einer Erklärung. Kurden weltweit wurden aufgefordert, gegen die Offensive zu demonstrieren.

Trump: "Schlechte Idee"

US-Präsident Donald Trump kritisierte den Einmarsch der Türken in Nordsyrien. "Die Vereinigten Staaten befürworten diesen Angriff nicht und haben der Türkei deutlich gemacht, dass diese Operation eine schlechte Idee ist", hieß es in einer Stellungnahme.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende September mit einer Karte des syrischen Grenzgebiets Bild: picture-alliance/AP Photo/S. Wenig

In New York will sich am Donnerstagvormittag (Ortszeit) der UN-Sicherheitsrat mit dem Vorgehen der Türkei beschäftigen. Deutschland habe im Auftrag der fünf EU-Mitgliedsländer des Rates - neben Deutschland sind das Polen, Belgien, Frankreich und Großbritannien - beantragt, dass das Thema in einer Sitzung angesprochen werde, hieß es aus Diplomatenkreisen.

Viele Regierungen und internationale Institutionen drangen scharf auf einen sofortigen Stopp der Offensive. Bundesaußenminister Heiko Maas telefonierte am Donnerstag mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu. Maas warnte anschließend auf Twitter, wegen der Offensive drohe ein Wiedererstarken der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS). Bei allem Verständnis für die türkischen Sicherheitsinteressen befürchteten Deutschland und die EU "erhebliche negative Folgen".

Auch die EU-Staaten haben die Türkei in einer gemeinsamen Erklärung zum Abbruch der Militäroffensive aufgefordert. "Erneute bewaffnete Auseinandersetzungen im Nordosten werden die Stabilität in der ganzen Region weiter untergraben, das Leiden der Zivilisten verschlimmern und zusätzliche Vertreibungen provozieren", heißt es in dem Text. Die Türkei gefährde zudem die Erfolge der internationalen Koalition gegen den IS. Als Beispiel wurde das Risiko genannt, dass durch die Kämpfe inhaftierte IS-Terroristen freikommen könnten.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei. "Es ist wichtig, alle Handlungen zu vermeiden, die die Region weiter destabilisieren (...) und noch mehr menschliches Leid verursachen können." Er will am Freitag in Istanbul mit Präsident Erdogan zusammenkommen und auch über die Militäroffensive sprechen.

Auch Saudi-Arabien und Ägypten, zwei der wichtigsten arabischen Staaten, verurteilten den Angriff. Die "türkische Aggression" stelle einen klaren Angriff auf die Souveränität Syriens dar, erklärte das Außenministerium in Riad über Twitter. Sie werde negative Auswirkungen auf die Stabilität der Region haben und untergrabe die internationalen Bemühungen, den Terror zu bekämpfen. Das ägyptische Außenministerium nannte den Angriff eine "inakzeptable Aggression".

Unklare Signale aus Washington

Der Einmarsch folgte auf widerstreitende Signale aus den USA. Diese hatten am Montag im Morgengrauen zunächst ihre Truppen aus der Grenzregion abgezogen - was auf grünes Licht für die türkische Offensive hinauslief. Die USA hatten die YPG vor einem Angriff aus der Türkei lange geschützt.

Die von den kurdischen Milizen dominierten SDF waren im Kampf gegen die Terrormiliz IS ein enger Verbündeter der USA. Ihre Truppen gingen in Syrien am Boden gegen die Extremisten vor und konnten wichtige Gebiete einnehmen. Sie überwachen außerdem zahlreiche Lager mit gefangenen IS-Kämpfern.

Nachdem Trump auch aus eigenen Reihen schwere Kritik hatte einstecken müssen für die Entscheidung, die Verbündeten im Stich zu lassen, vollzog er eine Kehrtwende. Er drohte mit schweren Konsequenzen für die türkische Wirtschaft, sollte die Türkei die Kurden angreifen. Senatoren im US-Kongress bereiteten unterdessen eine parteiübergreifende Resolution für Sanktionen gegen die Türkei vor.

Die Türkei will die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben und dort in einer sogenannten "Sicherheitszone" Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Das Land hat seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Mittlerweile kippt aber die anfangs von vielen gelebte Willkommenskultur, unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land.

Die Türkei warb in den vergangenen Wochen aggressiv für die Zone - und um Gelder für den Aufbau. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erteilte dem Anliegen jetzt eine Absage: "Erwarten Sie nicht, dass die Europäische Union dafür irgendetwas zahlen wird." Er droht damit indirekt auch mit einem Stopp der EU-Zahlungen, die die Türkei derzeit für aufgenommene syrische Flüchtlinge erhält.

Faktische Besatzung

Die Türkei war zuvor schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt, beide Male aber westlich des Flusses Euphrat. Im Jahr 2016 hatte sie mit der Offensive "Schutzschild Euphrat" in der Umgebung des syrischen Orts Dscharabulus den IS von der Grenze vertrieben, aber auch die YPG bekämpft. Anfang 2018 hatten von der türkischen Armee unterstützte Rebellen in einer Offensive gegen die YPG die kurdisch geprägte Grenzregion Afrin eingenommen.

Bis heute kontrolliert die türkische Armee dort gemeinsam mit verbündeten syrischen Rebellen ein Gebiet. Der Bundestag kam 2018 in einem wissenschaftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, die türkische Präsenz erfülle alle Kriterien einer militärischen Besatzung.

stu/se (dpa, afp)

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