Als Nacho Sánchez Amor, Türkei-Berichterstatter des Europäischen Parlaments, vergangenen Freitag vor die Kameras trat, wirkte er sichtlich bedrückt. Nach einem Besuch beim inhaftierten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu äußerte sich der Sozialdemokrat deutlich: Der Fall Imamoglu sei völlig konstruiert. Der Oppositionsführer sitze im Gefängnis, so Sánchez Amor, "weil Erdogans Kandidaten ihn nicht schlagen konnten". Die Istanbuler Staatsanwaltschaft habe die Aufgabe, Imamoglu politisch zu vernichten. "Dies werde ich meinen europäischen Kolleginnen und Kollegen so berichten", fügte er hinzu.

Seit dem 19. März sitzt der ehemalige Oberbürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri in Haft. Dem 54-Jährigen werden unter anderem Korruption, die Gründung einer kriminellen Vereinigung und Terrorunterstützung vorgeworfen. Im Rahmen der Ermittlungen wurden bisher rund 130 Personen festgenommen. Die Zahl ändert sich mit immer neuen Razzien fast täglich.

Bislang genießt Imamoglu große Solidarität. Seine Partei, die Republikanische Volkspartei (CHP), organisiert regelmäßig Protestkundgebungen im ganzen Land. Doch dieser Rückhalt könnte bald bröckeln.

Ein Hoffnungsträger im Gefängnis

Imamoglu gilt als volksnah, charismatisch und mobilisierungsstark - und ist der seit Jahren stärkste Rivale des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. In der Millionenmetropole Istanbul besiegte er Erdogans Kandidaten dreimal, was als Ende der Unbesiegbarkeit der AKP galt.

Mit diesen Erfolgen trat Imamoglu noch selbstbewusster auf. Nach den verlorenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 drängte der beliebte Politiker seine Partei zu Reformen. Auf dem Parteitag im Herbst desselben Jahres setzte sich mit Imamoglus starker Unterstützung sein Wunschkandidat Özgür Özel als neuer Vorsitzender durch und die gesamte Parteispitze wurde ausgetauscht. Die CHP gewann seitdem an Zuspruch und konnte nur ein Jahr später die Kommunalwahlen im Land für sich entscheiden. Imamoglu galt fortan als potenzieller Präsidentschaftskandidat und wurde im März offiziell gekürt.

Brisantes Gerichtsverfahren gegen die CHP

Mit der Inhaftierung Imamoglus und weiterer Oppositionspolitiker geriet die CHP in den vergangenen Monaten enorm unter Druck. Nun steht sie vor einer weiteren großen Herausforderung: Gegen die Partei läuft ein brisanter Prozess. Am 30. Juni 2025 könnte das zuständige Gericht in Ankara die Wahl des aktuellen Parteivorstandes vom Parteikongress im November 2023 für nichtig erklären. Einige Unterstützer des alten Parteivorsitzenden Kemal Kilicdaroglu hatten behauptet, es habe Unregelmäßigkeiten beim Wahlverfahren gegeben und Strafanzeige gestellt. Zudem, so die Vorwürfe, habe der Reformflügel unter Özel und Imamoglu bei der Wahl damals Stimmen von Delegierten gekauft.

Ein politisch motivierter Prozess

Regierungsnahen Medien versuchen seit langem mit ihrer Berichterstattung, den Zusammenhalt in der größten Oppositionspartei zu brechen, so der Eindruck von CHP-Unterstützern. Die Behauptung, der alte Parteivorsitzende und sein Flügel seien Parteiintrigen zum Opfer gefallen, werde gezielt verbreitet, heißt es. Falls die Berichterstattung tatsächlich Methode hat, dürfte sie ihr Ziel erreicht haben: Innerhalb der CHP und ihrer Anhängerschaft attackieren sich die gegnerischen Seiten mit heftigen Wortgefechten, Vorwürfen und Beleidigungen.

Aus Sicht des Politikwissenschaftlers Baris Övgün laufen sie "in die Falle der Regierung", die schon lange die Taktik verfolgt, unterschiedliche Flügel innerhalb der Oppositionsparteien gegeneinander aufzuhetzen und den Zusammenhalt zu schwächen. "Am 30. Juni könnten Richter mit ihrem Urteil die jetzige Parteispitze entfernen", sagt Övgün im Interview mit der DW. Allerdings glaubt er, dass die Verkündung des Urteils wahrscheinlich verschoben wird, um die Auseinandersetzung innerhalb der CHP weiter zu verschärfen und der Öffentlichkeit zu suggerieren: "Seht ihr, sie können noch nicht mal eine Partei kontrollieren, wie können sie ein Land regieren?"

Chaos in der Opposition?

Für den Fall, dass die Wahl der aktuellen Parteispitze am 30. Juni für ungültig erklärt wird, befürchten Beobachter Chaos innerhalb der Opposition. Bis die CHP einen Parteitag abhält und eine neue Parteispitze bestimmt, könnten Unsicherheit und Führungslosigkeit herrschen - und so eine Spaltung der Partei vorantreiben. Eine anderes Szenario ist, dass der alte Parteivorsitzende Kemal Kilicdaroglu zurückkehrt und sein Flügel die Oberhand gewinnt.

Kilicdaroglu, der dem konservativen Flügel zugerechnet wird, führte die Partei 13 Jahre lang und verlor in dieser Zeit alle Wahlen gegen Erdogans AKP. Beobachter attestieren dem 76-jährigen Ex-Bürokraten mangelnde Volksnähe. Er gilt auch als Erdogans bevorzugter Gegner.

Der Politikwissenschaftler Berk Esen kritisiert die zögerliche Haltung des alten Parteivorsitzenden Kilicdaroglu bei der aktuellen Diskussion und dem bevorstehenden Prozess. Auch wenn er beteuere, sich zurückzuhalten, stehe er in der Anklageschrift als Opfer und Geschädigter, merkt Esen an. Imamoglu und mehrere CHP-Politiker des Reformflügels dagegen seien die Beschuldigten, schrieb er auf X.

In Zusammenhang mit dem Urteil am 30. Juni könnte die Justiz den Weg für ein Politikverbot gegen Imamoglu ebnen, so Esen weiter. Der ganze Prozess sei "ein Hebel der Regierung gegen die Opposition", der jederzeit eingesetzt werden könne. Die implizite Unterstützung Kilicdaroglus für diesen Prozess erschwere eine einheitliche und klare Haltung der Opposition gegen die türkische Regierung.

Sollte die CHP nach einem Urteil, das die aktuelle Parteispitze auflöst, nicht umgehend einen Parteitag zur Neuwahl der Führung einberufen, droht die Einsetzung eines Zwangsverwalters. All diese Szenarien würden vor allem Ekrem Imamoglu schaden, sind sich aller Beobachter einig. Die fehlende Unterstützung und der schwindende Rückhalt seiner Partei könnten den stärksten Herausforderer Erdogans dauerhaft in den Hintergrund verbannen.