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Politik

Türkei: Straftat Präsidentenbeleidigung

Daniel Heinrich
10. September 2019

Ein deutscher Politiker muss in der Türkei wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht. Kein Einzelfall: Unter Präsident Erdogan sind Anklagen wegen Beleidigung stark angestiegen. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan
Bild: picture-alliance/AA/S. Kucuksahin

Der Grünen-Politiker Memet Kilic wirkt nicht wie jemand, der leicht aus der Fassung zu bringen ist. Dieser Tage aber ist der 52-Jährige, der neben seiner politischen Tätigkeit als Rechtsanwalt in Heidelberg arbeitet, einigermaßen angefasst. Der Grund: Kilic ist in der Türkei wegen Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan angeklagt worden.

In einem Interview mit einer türkischen Internetzeitung hatte er sich kritisch über Erdogan geäußert. Dass die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara zu solch drastischen Maßnahmen griff, hat ihn kalt erwischt: "Das ist auf jeden Fall eine neue Eskalationsstufe aus meiner Sicht. Mir ist nicht bekannt, dass schon einmal ein deutscher Politiker in der Türkei angeklagt wurde." So ungewöhnlich der Fall für Kilic selbst erscheint, ist er in der Türkei jedoch kein Einzelfall.

Lange Haftstrafe für hochrangige Oppositionspolitikerin

In einem aufsehenerregenden Verfahren war erst Anfang September Canan Kaftancioglu, die Istanbuler Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), zu fast zehn Jahren Haft verurteilt worden. Auch ihr war unter anderem "Beleidigung" des Präsidenten vorgeworfen worden. Das Pikante: Kaftancioglu gilt als rechte Hand des neuen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu und als Architektin seines zweifachen Wahlsiegs im März und Juni.

Oppositionspolitikerin Kaftancioglu (Mi.) vor dem Gerichtssaal in Istanbul, hinter ihr Bürgermeister ImamogluBild: DW/Adnan Agac

International hagelte es Kritik an dem Urteil, eine der schärfsten Reaktionen kam aus Deutschland. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth nahm den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan direkt in den Blick und warf ihm "schamlosen Missbrauch" der Justiz vor: "Zehn Jahre Haft für kritische Tweets: Das Urteil ist nichts anderes als ein Racheakt an der Opposition in Istanbul, die trotz massivster Repression und Behinderung die jüngsten Wahlen gewonnen hat."

Seit Erdogan Präsident ist: immer mehr Anklagen

Roths Kritik trifft einen wunden Punkt. Zwar ist der Tatbestand der Präsidentenbeleidigung in der Türkei gemäß Artikel 299 des Strafgesetzbuches schon seit 1993 strafbar. Seitdem Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, sind die Anklagen jedoch in die Höhe geschnellt. Allein in den ersten eineinhalb Jahren seiner Präsidentschaft hatte die türkische Justiz 1845 Verfahren wegen mutmaßlicher Präsidentenbeleidigung eingeleitet, mehr als in den 14 Amtsjahren seiner Vorgänger Ahmet Necdet Sezer und Abdullah Gül zusammen.

Seit dem gescheiterten Putsch im Sommer 2016 ist die Anzahl der Prozesse noch einmal rapide angestiegen. Allein im Jahr 2017 ermittelte die Staatsanwaltschaft in rund 21.000 Fällen wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung, in über 6000 Fällen kam es zum Prozess.

Aufgrund der Häufung der Fälle fordern inzwischen sowohl die Europäische Union als auch die Venedig-Kommission - eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät - den Artikel 299 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Bislang weigert sich die Regierung in Ankara.

Reporter ohne Grenzen: Repressionen gegen Journalisten

Neben Politikern sind es vor allem Journalisten, die wegen des Artikels in Bedrängnis geraten. Erol Önderoglu ist der Vertreter von Reporter ohne Grenzen (ROG) in der Türkei. Für ihn ist der Artikel 299 eines der Symbole der "autoritären Herrschaft in der Türkei". Im Gespräch mit der DW malt er ein düsteres Bild der Situation in seinem Land, spricht von "physischen und rechtlichen Repressionen gegen Journalisten wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung". Systematisch würden Prozesse geführt, eine unabhängige Arbeit sei kaum noch möglich: "Es kommen noch der Druck auf redaktionelle Freiheiten und Selbstzensur hinzu. Das Alles führt dazu, dass sich das gesamte Medienklima in der Türkei verschlechtert."

Erol Önderoglu ist der Vertreter von Reporter ohne Grenzen in der Türkei. Ihm wird Terrorpropaganda vorgeworfenBild: DW/K. Akyol

Das Urteil Önderoglus spiegelt sich auch in der Statistik wider. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit von ROG ist die Türkei seit dem Jahr 2002, als die Erdogan-Partei AKP das erste Mal die Mehrheit der Stimmen erhielt, ganze 58 Plätze abgestürzt. Derzeit liegt sie auf Rang 157 von 180 Staaten.

Das Auswärtige Amt warnt

Der Grünen-Politiker Memet Kilic ist für Dezember zu einer Anhörung in Ankara geladen. Ob er den Termin wahrnimmt, hat er noch nicht entschieden: "Ich spiele mit dem Gedanken dort hinzureisen, und meine Meinung zu sagen", sagt er selbstbewusst. Allerdings sei er sich auch bewusst, dass er festgenommen werden könnte.

Der Jurist und Grünen-Politiker Memet KilicBild: picture-alliance/dpa/C. Schmidt

Ginge es nach dem Auswärtigen Amt (AA) in Berlin, sollte er die Reise wohl besser sein lassen. Das AA mahnt bereits seit längerem in seinen Reisehinweisen für die Türkei zur Vorsicht: "Festnahmen und Strafverfolgungen deutscher Staatsangehöriger erfolgten vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen" Äußerungen, heißt es.

Dass nach Einschätzung der Experten in Berlin für eine Verhaftung weit weniger als ein Interview nötig ist, bleibt auch im Behördendeutsch nicht verborgen. Im Einzelfall, so heißt es beim AA nüchtern, genüge schon das "Teilen oder Liken" eines Beitrags in den sozialen Netzwerken.

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