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Politik

"Es ist mein Lebensstil - na und?"

14. März 2018

Seit 15 Jahren ist Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei an der Macht. Seitdem gibt es Diskussionen, wie weit die Politik in den Lebensstil der Menschen eingreifen darf. Am stärksten betroffen sind die Frauen in der Türkei.

Türkei Lachverbot für Frauen
Bild: OZAN KOSE/AFP/Getty Images

"Ich habe Freundinnen, die immer Tränengas oder eine lange Nadel bei sich tragen. Ich persönlich mache das nicht, denke aber darüber nach." Irmak ist 32 und sitzt in einem Café in Nişantaşı, einem der liberalen Stadtviertel Istanbuls. Sie lebt alleine. Morgens muss sie sich gut überlegen, das Richtige anzuziehen, erzählt sie. Sie ist der Meinung, dass es die Regierung ist, die Druck auf Frauen ausübt und ihnen ihre Freiheit nimmt.

Am 14. März 2003 bildete Recep Tayyip Erdoğan seine Regierung und Ministerpräsident. Seitdem sind die Eingriffe der Politik in den Lebensstil der Menschen ständiges Diskussionsthema in der Türkei. Am stärksten betroffen von diesen Eingriffen und der politischen Rhetorik sind die Frauen.

Nicht zu laut lachen

Immer wieder sorgte Erdoğan mit seinen Aussagen für Aufsehen: Frauen sollten mindestens drei Kinder bekommen, Kaiserschnitt sei schlecht, Abtreibung sei Mord. Bülent Arınç, von 2009 bis 2011 stellvertretender Ministerpräsident sagte, Frauen sollten "tugendhaft" sein und in der Öffentlichkeit nicht zu laut lachen. Und Mehmet Müezzinoğlu, Gesundheitsminister  bis 2016, erklärte, Frauen sollten außer ihrer Karriere als Mütter keine andere Karriere verfolgen.

Die 34-jährige Doktorandin Selime lebt in Beyoğlu in Istanbul. "Eine Regierung, die so viel über Frauen redet, impft den Männern der Gesellschaft Mut ein. Dann ist es auch nicht schlimm, wenn Frauen, die nicht gehorchen, vergewaltigt werden oder Opfer von Gewalt werden." Selime hat das Gefühl, sich als Frau, die nicht in das von der Regierung gezeichnete Bild der "guten Frau" passt, immer häufiger verteidigen zu müssen. "Für die Freiheit und die Stärke der Frau ist es gefährlich, wenn bestehende Rechte in der Praxis nicht angewandt werden. Das beste Beispiel hierfür ist das Abtreibungsgesetz. Ich sehe auch für mich eine Gefahr."

"Unser Nationalgetränk ist Ayran"

Auch Erdoğans Einstellung Alkohol gegenüber wurde in den vergangenen 15 Jahren immer wieder kritisiert. "Unser Nationalgetränk ist Ayran", hatte Erdoğan erklärt. Der Verkauf alkoholischer Getränke in Supermärkten und kleineren Läden nach 22 Uhr wurde verboten. Die Darstellung von Alkohol in Filmen, Videoclips und Serien wurde verboten. Ebenso war es Firmen, die alkoholische Getränke vertrieben, nicht mehr erlaubt, Festivals oder Konzerte zu sponsern. Bei all dem war Erdoğan noch immer der Meinung, die Restriktionen bedeuteten keinen Eingriff in den Lebensstil der Menschen.

Recep Tayyip Erdoğan beim Konsum des NationalgetränksBild: picture-alliance/AA/Y. Bulbul

Herr Baki ist 58 und pensioniert. Er kritisiert den Preiszuschlag, der auf alkoholische Getränke erhoben wird. "Alkohol, Zigaretten und Benzin finanzieren die Türkei." Weil das Leben teurer geworden ist, fährt er nicht mehr Auto. "Das ist zu teuer…Kasko, Versicherung, das ist alles zu hoch."

Trotz der vielen Diskussionen um die Einschränkung des Lebensstils gibt es auch die, die mit der Situation zufrieden sind. Özcan Bayrak ist 58, er arbeitete als Sicherheitsbeamter und ist mittlerweile pensioniert. 1999 war er aus Sinop nach Istanbul gezogen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. In den vergangenen 15 Jahren habe sich viel verändert, erzählt er.

"Von A bis Z, jetzt ist alles entspannt. Wir haben viele Fortschritte gemacht. Im Gesundheitswesen und beim Transport. Früher war es schon ein Problem, wenn man sich im Krankenhaus untersuchen lassen wollte. Möge Gott uns davor bewahren, dass wir zu jenen Tagen zurückkehren."

Özcan Bayrak ist mit der Entwicklung in der Türkei zufriedenBild: DW/B. Karakaş

"...die gut sind für dieses Volk"

Nach dem Militärputsch 1980 wurde eine Kleidervorschrift erlassen, nach der es Frauen mit Kopftuch nicht erlaubt war, in öffentlichen Institutionen zu arbeiten. Der nach dem Putsch gegründete Hochschulrat (YÖK) verbot Kopftücher an Universitäten.

Hilal ist 40 und Beamtin. Für sie ist die AKP die beste Regierung ist, die sie bislang gesehen hat. "Früher durften wir mit Kopftuch nicht arbeiten, jetzt können wir das, Gott sei Dank. Wir konnten nicht beten und wenn wir es dennoch getan haben, gab es immer Probleme. Jetzt mischt sich keiner mehr ein", erzählt sie.

Auch für die 42-jährige Suna war die Zeit vor der AKP nicht gut. "Als ich wegen meines Kopftuches ein Fernstudium absolvierte, wurde ich aus dem Unterricht geworfen. Mein Herz zog sich regelrecht zusammen", erinnert sie sich. Auch vergisst sie nicht ihre Freundinnen, die gezwungen waren, ihr Studium abzubrechen. Später sei es ihr gelungen, ihr Studium zu beenden, erzählt sie, "doch diese Frustration habe ich oft erlebt".

Abdullah Sanır färbt Schuhe im Istanbuler Bezirk Eminönü. Vor 22 Jahren kam er von Bingöl nach Istanbul. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. "Früher herrschte mehr Druck, heute ist es besser", sagt er. Für ihn ist der Alltag heute entspannter. "Erdoğan stammt aus Rize, ich komme auch Bingöl. Ich bin Kurde. Ich gebe meine Stimme der AKP. Man muss hinter allen denen stehen, die gut sind für dieses Volk", sagt er. 

Abdullah Sanır, Kurde und Unterstützer der AKPBild: DW/B. Karakaş

Gesellschaftliche Empfindlichkeiten

Eine der Gruppen, gegen die sich die Rhetorik der Regierung richtet, sind Lesben, Schwule und Transsexuelle. Die "Pride"-Demonstration findet traditionell auf der Istiklal Straße am Taksim-Platz in Istanbul statt. In den vergangenen drei Jahren kam es entweder zu Übergriffen der Polizei, oder die Demonstration wurde vom Gouverneur ganz verboten. Zuletzt hatte der Gouverneur von Ankara sämtliche Theaterstücke, Interviews und Ausstellungen mit LGBT-Hintergrund untersagt. Als Begründung wurde die "gesellschaftlichen Empfindlichkeiten und Sensibilität" angegeben.

Janset ist Transaktivistin. Im ersten Jahr der AKP-Regierung war sie von Adana nach Istanbul gezogen. Bis 2007 habe sie sich wohl gefühlt und ohne Angst gelebt, aber seit 2011 habe sich ihr tägliches Leben verändert, erzählt sie.

"Die Bereiche, in denen ich mich ausdrücken und arbeiten kann, werden immer weniger. Die Gewalt in der Gesellschaft wird immer mehr. Drei Jahre bin ich kaum aus dem Haus gegangen. Ich fühle mich stark unter Druck gesetzt und bin weit entfernt von wirtschaftlichem Wohlstand", so Janset.

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