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Türken haben neues Parlament gewählt

Baha Güngör, z.Zt. Ankara7. Juni 2015

Mehr als 53 Millionen stimmberechtigte Bürger der Türkei wählten am Sonntag ein neues Parlament. Anders als befürchtet blieb es im ganzen Land ruhig. Baha Güngör berichtet aus Ankara.

Frau in Mersin in der Türkei im Wahllokal, 07.06.2015 (Foto: picture alliance)
Ob diese Frau in Mersin in der Türkei ihre Wahl mit einem "Bismillah" abgesegnet hat, ist nicht bekanntBild: picture-alliance/AA/Sezgin Pancar

Im Wahllokal im Institut für die türkische Sprache (Türk Dil Kurumu) geht alles seinen ordentlichen Weg. An der Wand ist die Aufforderung des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk an die türkische Nation zu lesen, ihre Sprache "vom Joch fremder Sprachen" zu befreien. "Bismillah", sagt die offenkundig modern orientierte Frau mittleren Alters beim Einwurf ihres Stimmzettels in die Wahlurne mit der Nummer 1329 im Ankaraner Stadtbezirk Çankaya. Steht sie mit dieser Gebetsformel in arabischer Sprache nicht im Widerspruch zu "Gazi" (Veteran) Mustafa Kemal? Sie lächelt und geht wortlos aus dem Gebäude. Ihre politische Entscheidung und ihren Namen will sie nicht nennen.

Mit der Abkürzung von "Bismillahi rahmani rahim" hatte sie sich - wie fast alle Muslime in der Türkei - bei Gott rückversichert und um seinen Segen gebeten. Diese den Suren im Koran vorgeschaltete Formel dürfte bis Sonntagabend der meist benutzte Begriff in der Türkei sein. "Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen" bedeutet diese auch von weltlich orientierten Türken zitierte Bitte um Allahs Segen, wenn sie etwas tun, was "helal" (erlaubt, gegönnt) ist.

Die Ruhe in diesem Wahllokal sowie die Ruhe, die aus allen Landesteilen gemeldet wird, dürfte die letzte Atempause vor innenpolitisch stürmischen Zeiten sein. Nach dieser Ruhe sah es vor dem Wahltag nicht aus. Der Bombenanschlag auf eine Kundgebung der Kurden-Partei HDP am Freitag in der Kurden-Hochburg Diyarbakır mit zwei Toten und 100 Verletzten hatte große Befürchtungen ausgelöst, es könne Unruhen vor und in den Wahllokalen geben.

Werben bis zur letzten Minute: Wahlkampfveranstaltung in Istanbul am SamstagBild: Reuters/M. Sezer

Stimmen gegen AKP-Macht

"Diesmal wählen die meisten Menschen, Türken und Kurden, mit der Angst vor einem totalitären Regime im Nacken", sagt der Politik- und Kommunikationswissenschaftler Doğan Tılıç von der Middle East Technical University. Die religiös-konservative AKP verdanke ihre unumstrittenen Wahlsiege seit 2002 der Angst der Bürger vor einer Verarmung: "Diesmal entscheiden die Menschen aus rationalen Überlegungen heraus", sagt Tılıç .

Ein Präsidialsystem, wie von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und einer ihm ergebenen Regierung angestrebt, scheint für die Mehrheit der türkischen Bürger keine Priorität zu haben. Vielmehr ist der Wunsch nach innenpolitisch ruhigeren Zeiten und nach gesellschaftlichem Frieden überall spürbar. Die Kurden-Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) genießt deshalb auch bei Türken große Sympathien. Die HDP gilt als die letzte Garantie dafür, die Macht Erdoğans einzuschränken. Voraussetzung für ihren Einzug ins Plenum bleibt der Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde. Die politischen Analytiker sind sich einig, dass die Türken mit ihrer Stimmabgabe für die HDP auch den weiteren Vormarsch Erdoğans zum Alleinherrscher stoppen wollen.

Der Chef des renommierten Meinungsforschungsinstituts KONDA, Tarhan Erdem, begründet den unerwartet deutlichen Zuspruch für die HDP damit, dass sie sich erfolgreich als eine Partei präsentiert hat, die nicht nur Kurden, sondern alle Türken wählen können. Am Einzug der HDP ins Parlament hegt Erdem keine Zweifel: "Die HDP bemüht sich, die Menschen zu überzeugen, dass sie mitregieren will. Erdoğan war zwischen 2002 und 2010 deshalb so erfolgreich, weil er an die Demokratie glaubte. Inzwischen ist er davon abgewichen. Das hat Alternativen zu ihm und seiner AKP den Weg geebnet."

Seine Partei ist das Zünglein an der Waage: Selahattin Demirtaş, stellvertretender Vorsitzender der HDPBild: Reuters/M. Sezer

Polarisierte Gesellschaft

Erdoğan ist der erste direkt vom Volk gewählte Präsident der Türkei. Mit 52 Prozent der Stimmen hat er im vergangenen Jahr einen grandiosen Aufstieg erlebt. Seitdem jedoch hat er die Polarisierung der Gesellschaft verschärft. So will er für seine Partei die absolute Mehrheit retten, die sie seit 13 Jahren besitzt. Der Journalist Emin Varol vergleicht diese Strategie mit der Politik des früheren Junta-Chefs und Putsch-Präsidenten Kenan Evren. Als 1983 die ersten Parlamentswahlen nach der drei Jahren Militärherrschaft stattfanden, habe Evren versucht, einer Partei unter Führung des Ex-Admirals Turgut Sunalp zum Erfolg zu verhelfen: "Am Ende wurde der Favorit der Militaristen dritte Kraft in der großen Nationalversammlung und verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Solche Versuche wie der jetzt von Erdoğan können sich böse rächen", erklärt Varol.

Basierend auf dem Reformwerk des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk herrscht seit 1950 in der Türkei eine Mehrparteien-Demokratie. Unter der Vorherrschaft der AKP wurde die säkulare gesellschaftliche Grundordnung zusehends geschwächt. Das soll jetzt anders werden, mit dem Segen Allahs, des Barmherzigen "Bismillahi rahmani rahim!"

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