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PolitikTürkei

Kurdengebiete: Ein tödliches Pflaster

Felat Bozarslan | Daniel Derya Bellut
11. September 2021

Die Stadtzentren im Südosten der Türkei sind konfliktgeladen. Sicherheitskräfte patrouillieren dort mit schweren Militärfahrzeugen - häufig kommt es zu tödlichen Unfällen mit Kindern. Konsequenzen gibt es kaum.

Türkei Diyarbakir Militäroffensive gegen Kurden
Gepanzerte Militärfahrzeuge sind in Städten wie Diyarbakir bis heute allgegenwärtigBild: picture-alliance/abaca/M. Coban

In Şirnak, im Südosten der Türkei kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen zwischen gepanzerten Militärfahrzeugen und unbeteiligten Passanten. Jetzt hat ein dramatischer Vorfall eine alte Debatte wieder aufgewärmt: Letzte Woche wurde der siebenjährige Mihrac Miroglu von so einem Fahrzeug getötet. Er war gerade auf seinem neuen Fahrrad unterwegs, das ihm sein Vater geschenkt hatte. In diesem Moment raste das massive Militärfahrzeug durch sein Wohngebiet. Der Junge wurde von dem Wagen erfasst und erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. 

Die Forderungen die Kriegsfahrzeuge aus dem zivilen Bereich zu verbannen, werden immer lauter. Denn Fälle wie der dramatische Tod des Siebenjährigen häufen sich. Nach Berichten des türkischen Menschenrechtsvereins İnsan Hakları Derneği (iHD) kamen in den 13 Jahren zwischen 2008 und 2021 40 Zivilisten bei Unfällen mit den tonnenschweren Militärfahrzeugen ums Leben - fast die Hälfte davon waren Kinder. 90 weitere Menschen wurden verletzt.

Seit den Unruhen im Jahr 2015 (Foto) sind massive Militärfahrzeuge in den engen Straßen üblich Bild: picture alliance/AA/K. Bozdogan

Die gepanzerten Militärfahrzeuge - auf Türkisch: zırhlı araçlar - sind in den Stadtzentren südosttürkischer Städte allgegenwärtig. Die Fahrzeuge, die zwischen 5 und 16 Tonnen wiegen, sind meistens mit schweren Geschützen auf dem Dach ausgestattet und werden von den türkischen Sicherheitskräften für unterschiedliche Zwecke eingesetzt: zur Verkehrskontrolle, zur Patrouille, zum Personentransport oder zur Gesetzesvollstreckung.

Gepanzerte Fahrzeuge prägen das Stadtbild

Seit dem Jahr 2015 sind die Kriegsfahrzeuge in südosttürkischen Städten, den Siedlungsgebieten türkischer Kurden, vermehrt anzutreffen. Die Erdogan-Regierung begann damals eine Militäroperation gegen Kurdenmilizen. In vielen südosttürkischen Städten, besonders in der Kurdenmetropole Diyarbakir, kam es zu Straßenkämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Kämpfern der verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK. Die robusten Fahrzeuge sollten den Sicherheitskräften den nötigen Schutz vor den überfallartigen Angriffen der Miliz bieten.

Auch sechs Jahre nach den Unruhen wurden die Militärfahrzeuge nicht aus den Stadtzentren verbannt - sie sind bis heute im Einsatz, auch in Wohngebieten. Die Behörden argumentieren, dass es in den Innenstädten auch heute noch eine terroristische Bedrohung gebe. Experten hingegen betonen, dass solch schwere und große Fahrzeuge nichts Stadtzentren verloren hätten.

Kriegsgerät im kinderreichen Wohngebiet

"Es ist nicht richtig, sie im Straßenverkehr und sogar in Wohngebieten einzusetzen", kritisiert Mehmet Emin Tümür von der türkischen Kammer für Maschinen- und Ingenieure in Diyarbakir. In den Fahrzeugen gebe es viele tote Winkel und generell eine schlechte Sicht. Es handelt sich nun einmal um Kriegsfahrzeuge, die normalerweise in ländlichen Gebieten eingesetzt werden - in Gebieten, in denen es keine Fußgänger und kaum Verkehr gibt", kritisiert Tümür.

Bürgerkriegsähnliche Zustände in Diyabakir im Jahr 2015Bild: Murat Bayram

Der Vater des siebenjährigen Mihrac sagte der DW, dass er nach dem Tod seines Sohns nur einen Wunsch hat: Dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und die Gerechtigkeit siegt. Doch die Polizisten, die in so einen Unfall verwickelt sind, müssen in den meisten Fällen keine harten Konsequenzen befürchten. Der Polizist, der den tödlichen Unfall mit dem siebenjähringen Mihrac verursacht hatte, argumentierte damit, dass er nicht zu schnell gefahren sei als sich der Unfall ereignete. Die Staatsanwaltschaft leitete zwar ein Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten ein - die Erwartungen sind jedoch gering.

Anwalt: "Politik der Straflosigkeit"

Denn in den meisten Fällen geht das Gerichtsverfahren glimpflich für die Täter aus. Die Erinnerungen an ähnliche Vorfälle sind in der türkischen Öffentlichkeit noch wach: Ein Polizist, der vor vier Jahren in der südosttürkischen Stadt Silopi ein Haus rammte und die Geschwister Muhammed und Furkan Yildirim tötete, musste eine Geldstrafe von umgerechnet ungefähr 1900 Euro bezahlen, die er in Raten absetzen konnte. Der Soldat, der zuletzt den 83-jährigen Rentnerin Pakize Hazar in Diyarbakir mit seinem gepanzerten Fahrzeug überfuhr, wurde zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1800 Euro verurteilt.

Der Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakir, Nahit Eren, erklärt, dass solche Unfälle zunehmen, weil die Justiz keine abschreckenden Strafen verhängt. In vielen Fällen würden Ermittlungen oder Anzeigen gar nicht erst zu einer Klage führen - nichts anderes sei auch bei der Tragödie mit dem siebenjährigen Mihrac Miroglu zu erwarten, prognostiziert Eren.

"Die gerichtlich verhängten Sanktionen führen nicht zu Freiheitsstrafe. Es handelt sich um eine weit verbreitete Politik der Straflosigkeit. Bei härteren Strafen würden die Fahrer vorsichtiger handeln - man hätte eine abschreckende Wirkung. Da oft nicht ermittelt wird, gibt es auch keine wirksame Strafverfolgung. Oft werden die Akten nicht abgeschlossen", mahnt der Jurist.

Türkisches Parlament in der Verantwortung

Laut Eren besteht ein weiteres Problem darin, dass im Südosten der Türkei die Stimmung, auch sechs Jahre nach den Unruhen, weiterhin angespannt sei. Durch die Präsenz der Sicherheitskräfte in ihren Fahrzeugen sollten neue Unruhen verhindert werden. Kritik an den gepanzerten Militärfahrzeugen in türkischen Stadtzentren sei daher oft unerwünscht. "Es gibt die Wahrnehmung, dass die Bestrafung von Polizisten diesen Kampf gefährdet (...) Leider steht auch die Justiz unter diesem Druck. Doch das ist nicht nur eine gerichtliche Angelegenheit. Es ist wichtig, dass der parlamentarische Ausschuss für Menschenrechte sich dem Fall annimmt".

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