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Politik

Türkische Opposition will auf EU zugehen

Teri Schultz ehl
22. Juni 2018

Bei den Wahlen in der Türkei scheint ein Sieg der säkularen CHP über Erdogan erstmals nicht unmöglich. Wie würde das die Beziehungen der Türkei zur EU verändern? Teri Schultz hat die CHP in Brüssel besucht.

Symbolbild EU Türkei
Bild: imago/blickwinkel

Kader Sevinc hat die EU fest im Blick - und zwar nicht nur bildlich, sondern auch wortwörtlich. Die Vertreterin der wichtigsten türkischen Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), hat sich ein Büro ausgesucht, von dem sie auf der einen Seite das EU-Kommissionsgebäude sehen kann. Dem Fenster ist der Europäische Auswärtige Dienst so nah, dass sie den Mitarbeitern dort zuwinken kann.

Und auch die Erfüllung ihres Traums ist für Kader Sevinc zum ersten Mal seit vielen Jahren in Sichtweite: dass die Türkei eines Tages Teil dieser Institutionen sein könnte. Lange hat sie darauf hingearbeitet. Als Sevinc vor dreizehn Jahren beim Europaparlament zu arbeiten begann, glaubte sie, die Türkei auf der Schnellspur unterwegs in die Europäische Union.

Von ihrem Büro blickt Kader Sevinc direkt auf das Berlaymont-Gebäude, in dem die EU-Kommission sitztBild: DW/T. Schultz

"Ich habe diese Tage als sehr hoffnungsvoll in Erinnerung", sagte sie der Deutschen Welle. Als sie 2005 aus der Türkei nach Brüssel zog, begannen gerade die Verhandlungen über einen EU-Beitritt ihres Heimatlandes. Sie war sicher, dass Regierung und Opposition gleichermaßen den notwendigen Reformkurs einleiten würden.

"Damals glaubten wir, die Türkei käme viel schneller voran", so Sevinc, "und dass die EU viel besser auf den Beitritt der Türkei vorbereitet sei. Leider haben sich die Dinge in die komplett entgegengesetzte Richtung entwickelt." Aber sie ist sicher: "Wir werden das ändern."

CHP wirbt bei der EU für Vertrauen 

Mit "wir" meint Sevinc die CHP und ihren Präsidentschaftskandidaten, Muharrem Ince. Zum ersten Mal, seit Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner fundamentalistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 die Macht übernommen hat, steht die kemalistische CHP in den Umfragen so gut da, dass sie bei den Wahlen am 24. Juni eine ernsthafte Hürde für Erdogan darstellt. Der Opposition kommt dabei auch die schwächelnde Wirtschaft zugute.

Sevinc rechnet damit, dass die CHP Erdogan vom Thron stößt und seine Partei um die absolute Mehrheit im Parlament bringt. Wenn nicht im ersten Wahlgang, dann wäre das zumindest bei einer Stichwahl um das Präsidentenamt durchaus denkbar.

Ince verspricht, im Falle eines Sieges die von Erdogan erdachten zusätzlichen Befugnisse des Präsidenten wieder abzuschaffen. Den seit dem gescheiterten Putschversuch geltenden Notstand will er binnen 48 Stunden aufheben. Er will Menschenrechte schützen und Ankara auf einen Kurs Richtung EU bringen.

Der CHP-Spitzenkandidat Muharrem Ince bei einer Veranstaltung in BulgarienBild: DW/V. Bayrjamova

Sevinc weiß, dass eine neue türkische Regierung auch erst einmal das Vertrauen einer mittlerweile skeptischen EU gewinnen und beweisen müsste, dass sie es ernst meint mit demokratischen Werten in der Türkei.

Erdogan hat Europäer enttäuscht

"Leider hat Erdogan sehr viele Menschen von der Türkei enttäuscht, als er Europa als Nazis bezeichnete und versuchte, die türkische Diaspora als Werkzeug oder Waffe gegen einige europäische Regierungen zu nutzen und Zwietracht in diesen Ländern zu säen", sagt Sevinc.

Die Europaparlamentarierin Rebecca Harms ist eine dieser Enttäuschten, nachdem sie viel Zeit und Arbeit in die europäischen Beziehungen zur Türkei investiert hatte. Im Gespräch mit der DW in Straßburg zeigte sich Harms entnervt: "Es gibt für kleine Medien und Redaktionen nur noch wenig Freiraum, in dem sie kritisch berichten können. Tausende Menschen sind aus politischen Gründen in Haft. Es gibt eine große Säuberung gegen Oppositionelle. Das ist nicht die demokratische Türkei, auf die wir gehofft hatten - und auf die wir hingearbeitet haben."

Wenn die CHP an die Macht kommt, "werden wir diese Beziehungen wiederbeleben", sagt Kader Sevinc zuversichtlich. "Wir werden die Türkei zurück in diese europäischen Kreise bringen. Europa wird wissen, dass die Türkei ein Verbündeter ist und kein Feind."

Ein CHP-Sieg löst nicht alle Probleme

Marc Pierini war von 2006 bis 2011 EU-Botschafter in der Türkei und analysiert heute ihre politische Entwicklung bei der Denkfabrik Carnegie Europe. Weil Erdogan die Umfragen nach wie vor anführt, steht Pierini den Szenarien skeptisch gegenüber, die eine "vollständige Revolution" gegen die AKP und eine schnelle Annäherung zwischen Türkei und EU ausmalen. Wenn Ince gewinnen würde, so Pierini, wäre Brüssel zunächst "erleichtert", weil mit Erdogan auch die "täglichen Verschlechterungen und Verunglimpfungen" verschwinden würden. Erdogan, findet Pierini, hat "jede Aussicht auf Fortschritt zunichte gemacht".

Eine CHP-Wahlkampfveranstaltung in Kandidat Inces Heimatstadt YalovaBild: picture-alliance/abaca/Depo Photos/Dha/C. Erok

Trotzdem gibt der Politikwissenschaftler zu bedenken, dass ein Machtwechsel zur CHP nicht automatisch dazu führe, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs einen türkischen EU-Beitritt plötzlich "viel schmackhafter" fänden. "Was man beobachten könnte, wäre ein kompletter Stimmungswandel, herzlichere Beziehungen und Fortschritt in anderen Bereichen wie der Zollunion, bei Visa und so weiter", glaubt Pierini. "Aber es bleibt schwierig. Es wird davon abhängen, wie viele Mitglieder der neuen Führung den Rechtsstaat reparieren wollen. Die CHP sagt, sie will das - aber wir müssen erst abwarten, ob sie es auch tatsächlich umsetzt."

EU muss Erdogan die Stirn bieten

Was, wenn es anders kommt - wenn Erdogan gewinnt und noch autoritärer auftritt? Roland Freudenstein vom Martens Center, der Denkfabrik der Europäischen Volkspartei (EVP), sagte der DW, dass in diesem Fall die EU nicht vor einem formellen Abbruch der Beitrittsgespräche zurückschrecken sollte, auch wenn das die Türkei weiter in die Arme von Russland und Iran treibt. "Die Frage ist, was müssten wir aufgeben, um ihn zu einer Umkehr zu bewegen?" Freudenstein warnt davor, "unsere eigene Identität" aufzugeben. "Wir müssten aufhören, der Westen zu sein, und das ist ein zu hoher Preis."

Bisher jedoch scheint Erdogans Beliebtheit zu schrumpfen - gleichzeitig wächst Kader Sevincs Optimismus. Sie blickt aus dem Fenster und sinniert: "Jedes Mal, wenn ich in mein Büro komme und auf diese Institutionen schaue, würde ich gerne einen Türken an ihrer Spitze sehen. Am liebsten eine Türkin!"

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