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Politik

Türkische Provokationen werden Chefsache

Richard A. Fuchs
19. Juli 2017

Außenminister Gabriel bricht den Urlaub ab, er lässt den türkischen Botschafter einbestellen: Nach der Verhaftung von Menschenrechtlern kündigt die Bundesregierung scharfe Konsequenzen für die türkische Regierung an.

Deutschland - Bundesaussenminister Sigmar Gabriel SPD gibt ein Interview im Rahmen des G20 Gipfels
Bild: Imago/I. Kjer

Das Maß ist voll: Nach der Inhaftierung des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner durch die türkische Polizei scheint der Geduldsfaden bei der deutschen Politik gerissen zu sein. Außenminister Sigmar Gabriel (Artikelfoto) unterbricht seinen Sommerurlaub, um am Donnerstag bei einer Krisensitzung im Auswärtigen Amt zu beraten, was angesichts der "dramatischen Verschärfung des türkischen Vorgehens" zu tun ist.

Die türkische Polizei hatte am 5. Juli auf einer Insel vor Istanbul zehn Menschenrechtsaktivisten bei einem Workshop der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) festgenommen. Thema des Workshops war der Umgang mit Trauma und Stress. Vier Personen wurden am Dienstag wieder freigelassen, sechs wurden in Untersuchungshaft genommen, darunter der Deutsche Steudtner und die türkische Amnesty-Direktorin Idil Eser. 

Terrorvorwürfe gegen Menschenrechtler "abwegig"

Am Mittwoch dann der diplomatische Paukenschlag. Der türkische Botschafter wurde ins Auswärtige Amt "zitiert", wie der Sprecher des Außenamts Martin Schäfer erklärte. Die förmliche Einbestellung von Botschaftern gehört zu den härtesten Bandagen, die es in diplomatischen Krisen gibt. "Ihm wurde klipp und klar gesagt, dass die Verhaftung von Peter Steudtner und anderen Menschenrechtsaktivisten weder nachvollziehbar, noch akzeptabel und schon gar nicht vermittelbar ist", so Schäfer.  

Screenshot einer Webseite von Menschenrechtsaktivist Peter SteudtnerBild: 687performance.de

Keine diplomatischen Floskeln mehr 

Die Bundesregierung erwarte eine unverzügliche Freilassung, weil die Vorwürfe über Verbindungen zu terroristischen Organisationen offensichtlich an den Haaren herbeigezogen seien. "Es sei denn, man wollte Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen als terroristisch qualifizieren – und das ist abwegig", klagte Schäfer. Ab jetzt werde deshalb "ohne diplomatische Floskeln" mit der türkischen Seite verhandelt.

Der deutsche Menschenrechtler war zusammen mit einem schwedischen und vier türkischen Staatsbürgern am Rande des ai-Workshops verhaftet worden. "All diese Menschen haben an einem Seminar teilgenommen, wie es in einer Demokratie möglich sein muss, ja, wie sie eine Demokratie auch schmückt", kritisierte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, das Vorgehen der türkischen Behörden. Ihnen terroristische Umtriebe anzuhängen, sei ein durchschaubarer Versuch, Andersdenkende zu diskreditieren und sie zu kriminalisieren.

SPD-Kanzlerkandidat Schulz: Merkel ist bei Erdogan zu zögerlichBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Derzeit sitzen neun deutsche Staatsbürger aus politisch motivierten Gründen in türkischer Untersuchungshaft, teilte das Auswärtige Amt auf Nachfrage mit. Vier der Betroffenen seien sogenannte "Doppelstaatler", hätten also sowohl die deutsche wie auch die türkische Staatsbürgerschaft. In drei Fällen gebe es bislang keine konsularische Betreuung durch das Auswärtige Amt.

Beschuldigte können in der Türkei bis zu fünf Jahre in Untersuchungshaft festgehalten werden. Unter den Betroffenen sind auch der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel und die deutsch-türkische Übersetzerin Mesale Tolu Corlu, für deren Freilassung sich die Bundesregierung bereits mehrfach eingesetzt hat.

Zu lange nur beschwichtigt?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte die Inhaftierung des Berliners Steudtner am Mittwoch scharf verurteilt. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte Merkel im Gespräch mit der "Bild"-Zeitung auf, jetzt gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auch Taten folgen zu lassen. "Die Zeit des Abwartens und des Beschwichtigens muss vorbei sein.

Özdemir: "Bei Einführung der Todesstrafe Türkei-Beitrittsverhandlungen beenden

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Cem Özdemir, Spitzenpolitiker der Grünen, kritisierte Merkel, einer direkten Bedrohung durch die Türkei in der Bundesrepublik nicht entschlossen genug entgegenzutreten.

Merkel "zu soft"?

"Während wir reden, wird in einer Moschee nach der anderen in Deutschland der Vorstand ausgewechselt, die integrationswilligen Leute werden abgezogen (...). Ersetzt durch Leute, die ihre Befehle aus Ankara empfangen", sagte Özdemir im Interview mit der DW. Auch sein Resümee: "Frau Merkel ist mir da zu soft", denn: "Erdogan will auch in Deutschland die Türkei errichten".     

Sollen der Türkei EU-Hilfen gestrichen werden? 

Jetzt muss die Kanzlerin Klartext reden", verlangt ihr sozialdemokratischer Herausforderer Schulz. Doch was heißt "Klartext"? Wirtschaftssanktionen? Einfrieren von Hilfsgeldern? Oder politische Isolation?

Schulz schlägt im "Bild"-Interview vom Donnerstag vor, bestimmte Abkommen mit der Türkei einzufrieren. Es mache "in dieser dramatischen Situation keinen Sinn, mit der Türkei über die Ausweitung der Zollunion mit der EU zu reden". Spekuliert wird auch darüber, ob die europäischen Hilfsgelder für die Türkei im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche des Landes ausgesetzt werden sollten.

Die Europäische Union hatte der Türkei dabei im Jahr 2014 rund 4,45 Milliarden Euro Unterstützung zugesagt, um die Bereiche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. "Da muss man sich natürlich fragen", so Regierungssprecher Seibert, "ob diese Hilfen ihr Ziel auch erreichen können." Bis zum heutigen Tag sei allerdings nur ein kleiner Teil des Geldes tatsächlich nach Ankara geflossen, erläuterte der Regierungssprecher.

Passt seine Türkei noch nach Europa? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Kundgebung Bild: Reuters/Turkish Presidency

Im deutsch-türkischen Verhältnis hatte es zuletzt viele Zerreißproben gegeben. Die Besuchsverbote für deutsche Parlamentarier auf den Militärstützpunkten Incirlik und Konya, die Inhaftierung deutscher Journalisten und Bürgerrechtler sowie wiederholte Nazi-Vergleiche des türkischen Staatschefs an die Adresse der Bundesregierung: Man habe "wachsende Zweifel", so Martin Schäfer vom Auswärtigen Amt, dass der türkische Präsident im Verhältnis zu Deutschland gute Absichten verfolge.#

Anfang vom Ende?

Noch spricht das Auswärtige Amt für die Türkei keine Reisewarnung aus, sondern beschränkt sich darauf, Urlauber davor zu warnen, sich in der Öffentlichkeit regierungskritisch zu äußern. Ob es dabei bleibt, wird auch die Krisensitzung mit Außenminister Gabriel am Donnerstag zeigen. Merkel hatte in einer ihrer letzten Regierungserklärungen erklärt, eine Abwendung der Türkei von Europa, aber auch Europas von der Türkei, liege weder im deutschen noch im europäischen Interesse. In diesen Stunden scheint deutlich zu werden, dass diese Abwendung wohl bereits in vollem Gange ist.

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