Tabu Kindesmissbrauch in der DDR
6. März 2019Ronald ist zwölf Jahre alt und findet Eisenbahnen toll. Das Freizeitangebot der Pionier-Organisation Ernst Thälmann kommt da wie gerufen: Er darf in einem Projekt als Fahrkarten-Kontrolleur mitmachen. Toll habe er es gefunden, "dabei sein zu dürfen". So steht es in der am Mittwoch in Berlin vorgestellten Studie über sexuellen Missbrauch in der DDR. Doch bald durchlebt Ronald die Hölle. Drei Jahre lang wird das Kind von einem Mitarbeiter des Projekts brutal vergewaltigt.
Was der Junge im Osten des geteilten Landes erleiden muss, hätte ihm auch im Westen passieren können. Denn die Umstände, die Missbrauch ermöglichen, sind keine Frage des politischen Systems: Vertrauen wird missbraucht. Täter können die eigenen Eltern sein, Lehrer an Schulen, Betreuer in Sportvereinen oder Kirchen. Einen gravierenden Unterschied zwischen Ost und West gab es aber doch: In der DDR war sexueller Kindesmissbrauch schon deshalb ein Tabu, weil er das Bild vom angeblich überlegenen sozialistischen Menschen beschädigte.
Kriminalitätsstatistiken wurden manipuliert
Aus ideologischen Gründen wurde Kriminalität mit geringen materiellen Schäden statistisch kaum erfasst oder veröffentlicht. So versuchte das Regime, den Eindruck zu erwecken, der Sozialismus werde eine "deliktfreie Gesellschaft" hervorbringen, sagt Cornelia Wustmann. Die Lehrerin und Sozialpädagogin hat an der Studie mitgearbeitet und leitet seit Januar den Forschungsverbund "Torgau – Heimerziehung in Spezialheimen der DDR". Das Vertuschen und Verheimlichen von Kriminalität führte bei sexualisierter Gewalt laut der Studie dazu, "dass sie ebenso wie Kindesmisshandlungen und Kindstötungen damit quasi nicht existierte".
Die Reaktionen der Opfer waren dann wieder so wie in jeder anderen Gesellschaft auch: Gefühle von Scham und Schuld. Keine Möglichkeiten, über Sexualität zu sprechen. Fehlendes Vertrauen, um sich gegenüber Erwachsenen zu offenbaren. Opfer Ronald drückt es so aus: "Ich hatte nicht wirklich jemanden, mit dem ich sprechen konnte. Mein Vater wäre vielleicht noch jemand gewesen. Aber der war einfach viel zu selten zu Hause."
"Organisierte Gewalt" im Kinderheim Torgau
Grundlage der jetzt veröffentlichten Studie sind 29 schriftliche Berichte von Opfern, deren Namen geändert wurden. Knapp zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Die vorliegenden Berichte seien im statistischen Sinne nicht repräsentativ, betont das Autoren-Team. Besonders hilfreich war ein Besuch der Gedenkstätte "Geschlossener Jugendwerkhof Torgau". Corinna Thalheim war 1985 mehrere Monate in diesem berüchtigten DDR-Kinderheim. Ihr "Verbrechen", wie sie selber sagt: "ein paar Tage Schulbummelei".
Das Heim erlebte sie als "organisierte Gewalt" mit einem einzigen Ziel: "Umerziehung". Heute engagiert sich Corinna Thalheim unter anderem in der Initiative "Verbogene Seelen", der einzigen Selbsthilfegruppe von Opfern sexuellen Missbrauchs in DDR-Heimen. Von der Politik fordert sie mehr finanzielle und medizinische Unterstützung. Viele Betroffene lebten "an der Grenze zur Altersarmut". Was auch daran liegen dürfte, dass die meisten wegen fehlender gesetzlicher Regelungen keine Mittel aus dem Opferentschädigungsgesetz erhalten.
"Das Schweigen hält bis heute an"
Auch deshalb unterstützt die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs die Forderungen der Opfer. Nötig seien unter anderem Therapieangebote und Beratungsmöglichkeiten, sagte die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann. Die Sozialdemokratin ist Mitglied der Kommission. "Das Schweigen wirkte lange nach und hält bis heute an." Die aktuelle Studie solle auch andere Betroffene ermutigen, "das Schweigetabu aufzubrechen".
Die Betroffenen fordern außerdem, die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch aufzuheben, um eine strafrechtliche Aufarbeitung der Fälle offenzuhalten. Bislang haben nur zwei Opfer die Täter angezeigt. In beiden Fällen wurde niemand verurteilt.